Adornos Anmerkungen zur Wissenssoziologie Karl Mannheims in der "Negative(n) Dialektik"

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Adornos Anmerkungen zur Wissenssoziologie Karl Mannheims in der „Negative[n] Dialektik“


Auch in seinem philosophischen Spätwerk, der „Negativen Dialektik“, befasst sich Adorno an einigen Stellen mit der Wissenssoziologie Karl Mannheims, auch wenn seine Reflexionen hier, im Gegensatz zu dezidierten und ausführlichen Auseinandersetzungen an anderer Stelle, eher den Charakter kritischer Randbemerkungen haben. Seine Kritik kreist in erster Linie um die Themen des Relativismus1) – unter den er auch Mannheims Wissenssoziologie subsumiert2) – und um den ebenfalls von Mannheim eingeführten „totalen Ideologiebegriff“.3) Adornos Kritik am Relativismus lässt sich dabei grob wie folgt rekonstruieren: Relativistische Erkenntnistheorien gehen von einer unmittelbaren, zufälligen, aber nichtsdestotrotz unhintergehbaren Instanz aus, die als Grund aller Erkenntnis auszuzeichnen ist. In der eher individualistischen Tradition sind das die einzelnen Subjekte, während die Wissenssoziologie hinter den Individuen für die Erkenntnis noch fundamentalere Gruppeninteressen vermutet. Die sich ergebenden unterschiedlichen Perspektiven und Meinungen müssen dann – zumindest nach Adornos Lesart – mehr oder weniger gleichberechtigt behandelt werden und wissenschaftliche Objektivität lässt sich – wenn überhaupt – nur durch das gewinnen, was Mannheim als „freischwebende Intelligenz“ bezeichnet, also durch ein Verfahren, bei dem aus diesen verschieden Perspektiven objektive Wahrheit „destilliert“ werden soll. Adornos Argument gegen eine solche Auffassung besteht nun darin aufzuzeigen, dass gerade diese vermeintlich unmittelbaren Instanzen ihrerseits vermittelt sind, nämlich durch das gesellschaftliche Ganze und alles andere als unverbunden nebeneinander stehen, also gerade nicht zufällig sind: „In Wahrheit haben die divergenten Perspektiven ihr Gesetz in der Struktur des gesellschaftlichen Prozesses als eines vorgeordneten Ganzen. Durch dessen Erkenntnis verlieren sie ihre Unverbindlichkeit.“4) Das für Mannheim Bedingte, nämlich die Objektivität, wird so für Adorno zum Bedingenden, objektive Wahrheit wird als solche rehabilitiert und die Erkenntnissubjekte können nicht mehr als alleinige Grundlage von Erkenntnis fungieren.

Vom Wahrheitsbegriff ausgehend lässt sich schließlich auch Adornos Kritik am „totalen Ideologiebegriff“ verstehen. Will die Wissenssoziologie Philosophiekritik betreiben oder das Denken überhaupt untersuchen, dann wird sie immer deshalb scheitern, da sie niemals tatsächlich auf den Wahrheitsgehalt der fokussierten Vorstellungen schaut, sondern stets nur Zuordnungen betreibt – so Adornos Interpretation. Sie interessiert sich nur, ganz formal, für die Seins- und Interessensgebundenheit des jeweiligen Denkens, und wo sie den Wahrheitsbegriff verabschiedet, da kann sie natürlich auch keine Ideologiekritik betreiben, wie sie Adorno von einer kritischen Theorie fordert: „Denn der Begriff der Ideologie ist sinnvoll nur im Verhältnis zur Wahrheit oder Unwahrheit dessen, worauf er geht; von gesellschaftlich notwendigem Schein kann einzig im Hinblick auf das gesprochen werden, was kein Schein wäre und was freilich im Schein seinen Index hat.“5) Der totale Ideologiebegriff ordnet also nur Denkweisen den jeweiligen Seinszusammenhängen zu und ist somit für eine Kritik an Ideologien generell unbrauchbar, die wissenssoziologische Methode ist für Adorno schlichter Vulgärmaterialismus. Er steigert diese These noch, indem er nicht nur die Unbrauchbarkeit der Wissenssoziologie konstatiert, sondern ihr sogar einen apologetischen, wenn nicht gar reaktionären Zug zuweist.



1)Vgl. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt am Main, 2003, S. 45ff.

2)Hier wäre allerdings näher zu diskutieren, inwiefern Mannheims wissenssoziologische Methode mit dem Relativismus in Verbindung gebracht werden kann, denn Mannheim selbst fasst seine Vorgehensweise unter dem Begriff des „Relationismus“, den er gerade gegen einen Relativismus pointieren möchte. Sie hierzu Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main, 1995, S. 258ff; oder auch ders.: Die Bedeutung der Konkurrenz auf dem Gebiete des Geistigen, in ders.: Wissenssoziologie, Berlin/Neuwied, 1964, S. 331ff.

3)Vgl. Adorno 2003, S. 197ff.

4)Ebd., S. 47.

5)Ebd., S. 198.