Die verpassten Chancen einer Kooperation zwischen der „Frankfurter Schule“ und Karl Mannheims Soziologischem Seminar: Unterschied zwischen den Versionen
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Die verpassten Chancen einer Kooperation zwischen der „Frankfurter Schule“ und Karl Mannheims Soziologischem Seminar
Auszug
Wie Bertram Schefold in seinem Buch über die Universität Frankfurt anmerkt, ist es dem Soziologen Karl Mannheim zu verdanken, dass sich Anfang der 1930er Jahre die Soziologie eine Heimat in Frankfurt geschaffen hat (Schefold 2004: 87ff.). Während früher Heidelberg das Zentrum der Soziologie war, sollte mit Mannheim dieses Fach in Frankfurt zu einer „Modewissenschaft“ werden (Schievelbusch 1982: 15). Mannheims Vorlesungen waren nicht nur von Frankfurter Studenten, sondern auch von auswärtigen Gasthörern überlaufen (Hammerstein 1989: 130).
Im Januar 1930 wurde Mannheim auf den von Prof. Oppenheimer verlassenen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Frankfurt berufen.1 Seit 1929 hatte er mit dem Vorsitzenden des Kuratoriums, Kurt Riezler, verhandelt, um die notwendigen Voraussetzungen für seine „Premiere“ und den Neuaufbau eines „Soziologischen Seminars“ zu schaffen (Mannheim 1997: 38f.). Mannheim wollte in Frankfurt ideale Bedingungen für sein „Soziologisches Seminar“ erreichen, und dazu gehörte eine Bibliothek, in der Literatur aus verschiedenen Fächern vorhanden war, da Mannheims Soziologie die Aufgabe haben sollte, „sogenannte Querverbindungen zwischen den Einzeldisziplinen herzustellen“ (Mannheim 1997: 38). Er benötigte auch eine Assistentenstelle, da er vorhatte, die Studenten sofort mit der Anwendung soziologischer Methoden und mit konkreten Forschungen beginnen zu lassen, die von einem zweiten Wissenschaftler mitbetreut werden sollten.
In der Vorbereitungszeit auf seine Premiere befand sich Mannheim in Heidelberg, wo er seit 1923, seit er Ungarn verlassen musste, lebte. In Heidelberg hatte Mannheim 1925 bei Alfred Weber habilitiert und arbeitete seitdem als Privatdozent. Er hatte schon hier großen Erfolg bei den Studenten, und nicht wenige von diesen folgten dem Lehrer nach Frankfurt.2 Seine Bekanntheit hatte sich aber nicht nur in der Lehre, sondern auch unter den Kollegen verbreitet. Spätestens seit seinem Auftritt auf dem Soziologentag in Zürich 1928 wurde Mannheim in Deutschland zu einer zentralen Figur: Er hatte in Zürich einen Vortrag über „Die Konkurrenz im Gebiete des Geistes“ gehalten, der Aufregung in allen Schulen und Richtungen der Soziologie verursachte. Er gewann auf dem Soziologentag zwar keine Anhänger, da alle Soziologen sich von Mannheims Wissenssoziologie, die die Seinsverbundenheit jeder Schule postulierte, angegriffen fühlten (Meja/Stehr 1982). Aber Mannheim wurde nach diesem Vortrag gerade deshalb berühmt. Ein Jahr danach veröffentlichte er sein Buch „Ideologie und Utopie“, und die Kontroverse über Mannheim wurde noch größer und seine damit verbundene Bekanntheit ebenso. Dank seines großen Ruhmes bekam Mannheim den Ruf an die Universität Frankfurt.3 Der Vorsitzende des Kuratoriums, Kurt Riezler, wollte Frankfurt zu einer bedeutenden Universitätsstadt machen und suchte deshalb bekannte und große Figuren, die eine lebendige akademische Kultur und lebendige Austauschkreise aufbauen konnten.
Mannheim wurde in Frankfurt tatsächlich zu einem „akademischen Schooting-star“ (Matthiesen 1989: 72). Aufgrund der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde seine Blitzkarriere jedoch unterbrochen. Die Berühmtheit, die Mannheim in den 1930er Jahren erreicht hatte, geriet schon bald darauf in Vergessenheit. Sein Werk ist sowohl in Deutschland als auch im Ausland stark rezipiert worden, aber Mannheim gelang es nicht, eine Schule ins Leben zu rufen, wie er es sich in der Frankfurter Zeit erhofft hatte. Das lag freilich auch daran, dass Mannheim sehr früh, im Jahr 1947 starb. Er hatte außerdem, während seiner Emigrationszeit in England, sein wissenschaftliches Programm so stark verändert, dass vielleicht, wenn er länger gelebt hätte, eine andere Soziologie als die, die er in seinen letzten Jahren in Deutschland zu etablieren suchte, bekannt geworden wäre.
Tatsache ist, dass heute diese Soziologie, die sich in den 1930er Jahren auf ihrem Höhepunkt befand, kaum mehr bekannt ist. Dass Mannheim in Frankfurt gelehrt hat und seine Soziologie als die Frankfurter Soziologie galt, ist weithin vergessen. Wenn man heute über die Frankfurter Soziologie spricht, wird international an die „Frankfurter Schule“ bzw. das „Institut für Sozialforschung“ gedacht. Dieses wurde schon 1924 in einem eigenen Gebäude im Universitätsviertel eröffnet4, und im selben Jahr 1930, in dem Mannheim nach Frankfurt berufen wurde, bekam Max Horkheimer5 die Leitung des Instituts für Sozialforschung übertragen. Erst mit Horkheimer bildete sich die Gruppe, die heute als „Frankfurter Schule“ bekannt ist, wobei die Bezeichnung „Frankfurter Schule“ eine Fremdbezeichnung ist, die erst im Laufe der 1950er Jahre, mit der Rückkehr der Gruppe nach Frankfurt entstand (Dubiel 2001: 12).
Das Institut für Sozialforschung hatte sich in der ersten Verhandlung von 1923 mit dem preußischen Ministerium für Erziehung und der Stadt Frankfurt damit einverstanden erklärt, für zwei Professoren der Universität Räume in seiner ersten Etage zur Verfügung zu stellen (Jay 1974). Mannheim hatte bei seiner Berufung eigene Räume für sein Soziologisches Seminar verlangt, da er getrennt „von den Gesamtinstitutionen ‚Institut für Wirtschaftswissenschaften’“ (Mannheim 1997: 38) bleiben wollte, und er bekam zu diesem Zweck einen Teil der ersten Etage des Horkheimerschen Institutsgebäudes. Der andere, der mit Mannheim diese Etage teilte, war der Ökonom Adolph Löwe, der im Frühjahr 1931 berufen wurde.6 Löwe war schon von früher mit Mannheim, aber auch mit Max Horkheimer und dessen Freund Friedrich Pollock befreundet. Er wurde, so wie Mannheim, nach Frankfurt berufen, weil der Kurator Kurt Riezler die „zwischendisziplinäre Forschung“ und die Zusammenarbeit zwischen den Kollegen an der Universität fördern wollte, um dadurch „die Goethe-Universität zu einem Zentrum deutscher Universitätskultur zu machen“ (Löwe 2004: 93). Da Löwe sowohl mit Mannheim als auch mit den Mitgliedern des Instituts befreundet war, ging der Plan des Kurators leicht auf. Löwe organisierte seit dem Wintersemester 1931/32 zusammen mit Mannheim und unter der Beteiligung des Politologen Ludwig Bergsträsser und des Historikers Ulrich Noack z.B. ein Seminar als „Soziologische Arbeitsgemeinschaft“ über Sozialgeschichte und Ideengeschichte, das „Liberalismus-Seminar“, welches sich über drei Semester erstreckte. Mit den Mitgliedern des Instituts befand sich Löwe gleichfalls in ständigem Kontakt.
Die räumliche Nähe wäre ebenfalls eine gute Voraussetzung für eine Zusammenarbeit zwischen Mannheims Soziologischem Seminar und dem Institut für Sozialforschung gewesen, hätte sich nicht schon vor Mannheims Berufung eine Konkurrenzbeziehung entwickelt, die eine Kooperation tatsächlich unmöglich machte. Bekannt ist, dass diese Konkurrenz ihre erste explizite Äußerung in einem kritischen Aufsatz fand, den Horkheimer kurz vor der Ernennung zum Direktor des Instituts gegen Mannheims Soziologie geschrieben hatte (Hammerstein 1989: 81, Matthiesen: 1989: 82). Dieser Aufsatz wurde unter den Titel „Neuer Ideologiebegriff?“ 1930 in der damaligen Zeitschrift des Instituts veröffentlicht. Allein schon in Anbetracht der wenigen Publikationen, die Horkheimer in dieser Zeit und auch später vorgelegte, kann man die zentrale Bedeutung dieses kritischen Aufsatzes verstehen.7 Der Aufsatz lässt sich als ein früher Entwurf des programmatischen Textes lesen, den Horkheimer in der Emigration, im Jahre 1937 im zweiten Heft des 6. Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung unter dem Titel „Traditionelle und kritische Theorie“ publizierte. Und in der Tat spielt die Konkurrenzfigur „Mannheim“ nicht nur am Anfang der Geschichte des Instituts für Sozialforschung eine Rolle. Er behält diese Rolle während der Emigrationszeit und noch nach der Rückkehr der „Frankfurter Schule“ ins Nachkriegsdeutschland (Jay 1974). Mannheim wird stets als Antipode der kritischen Theorie dargestellt und weitgehend in dieser Rolle rezipiert. Man könnte also sagen, dass - obwohl es in den 1930er Jahren zu keiner direkten Auseinandersetzung zwischen beiden Lagern kam - diese latent, mindestens für die „Frankfurter Schule“, eine zentrale Rolle bei ihrer Selbstdefinition spielte.
Welche Bedeutung Mannheims Soziologie für die „Frankfurter Schule“ hatte, ist schon öfters untersucht worden (Jay, 1981, 1974; Huke-Didier 1985). Mannheim wird als Gegenspieler der kritischen Theorie behandelt, wobei dieser Gegenspieler verschiedene Gesichter annimmt. Nach dem kritischen Aufsatz von Horkheimer (1930) verkörpert Mannheim den ideologischen Feind als holistischer und idealistischer Denker („der totale Ideologiebegriff“) und als unkritischer und harmonisierender Intellektueller („freischwebende Intelligenz“). Kurz nach der Emigration erweitert Adorno in einem öfters umgearbeiteten Aufsatz die Eigenschaften des Feindes Mannheim. Dieser Aufsatz bekam zwischen 1934 und 1938 verschiedene Versionen, sollte in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht werden, wurde aber erstmalig aus dem Nachlass publiziert (Adorno 1998). Hier wird Mannheim als elitär und unkritisch bezeichnet, auch diesmal als Idealist, aber gleichzeitig als Positivist und Verfechter des Psychologismus (Jay 1974: 83f.).
Auch für Horkheimer spielt Mannheim noch am Anfang der Emigrationszeit eine zentrale Rolle. Nicht nur weil er alle Versionen von Adornos Text „gegen Mannheim“ sorgfältig verfolgte8, sondern weil in seinem nächsten programmatischen Text, in dem er die Schule des Instituts für Sozialforschung untern dem Slogan „kritische Theorie“ vorstellt, indirekt auch Mannheim eine wichtige Rolle spielt. In Horkheimers programmatischem Text „Traditionelle und kritische Theorie“ (1937) wird die Wissenssoziologie zum Gegenbild der kritischen Theorie, jetzt nicht mehr des Idealismus, sondern des Relativismus wegen. Während die Wissenssoziologie nach Unwahrheit sucht, bemüht sich die Kritische Theorie um Wahrheit (Jay 1981: 88).
Die Auseinandersetzung der „Frankfurter Schule“ mit Mannheims Soziologie setzte sich über den Krieg hinaus fort. Am Ende der 1950er Jahre erscheint ein kollektiver Artikel über Ideologie, in dem implizit Mannheims Ablehnung des konkreten Ideologiebegriffes „akzeptiert“ und übernommen wird. Mannheims totaler Ideologiebegriff wird aber immer noch als Symptom seines Idealismus und seiner unkritischen Haltung gedeutet (Jay 1974: 84). Nicht zuletzt in diesem gemeinsamen Aufsatz wird deutlich, dass die „Frankfurter Schule“ während des amerikanischen Exils in eine pessimistische Phase eingetreten ist, in der eine klare Befürwortung des „wahren Bewusstseins“ unmöglich geworden ist. Trotzdem behält die „Frankfurter Schule“ das Konzept einer „kritischen Theorie“ bei, die sich für die Suche nach Wahrheiten, ja der Wahrheit einsetzt.
In den späten „Auseinandersetzungen“ mit Mannheims Soziologie als Gegenspielerin der „Frankfurter Schule“ verkörpert Mannheim also den relativistischen Denker. Auswege aus diesem Relativismus scheint die jetzt eher pessimistisch-kritische Theorie nicht mehr richtig benennen zu können.9 Die „Frankfurter Schule“ behält dennoch das Feindbild der Wissenssoziologie bei, indem der Pessimismus mit einer Art metaphysischer Sehnsucht aufgeladen wird, um so nicht zu sehr in die Nähe des relativisischen Feindes zu geraten.
Jedenfalls ist das Kapitel „Die kritische Auseinandersetzung der Frankfurter Schule mit Mannheims Wissenssoziologie“ aufgrund der unterschiedlichen Feindbilder, die Mannheims Soziologie verkörpern soll, nicht allzu leicht zu schreiben. Die Autoren, die bisher das Verfassen eines solchen Kapitels unternommen haben, weisen darauf hin, dass es in dieser Auseinandersetzung zu einer Simplifizierung von Mannheims Konzept der Wissenssoziologie gekommen ist, in der nur partielle und negative Seiten seiner Soziologie hervorgehoben wurden (Jay, 1981, 1974; Huke-Didier 1985).
In der Geschichte der Wissenschaftsschulen und Intellektuellengruppen ist die Simplifizierung einer als Gegentheorie aufgefassten Schule stets eine wichtige Strategie, um im Konkurrenzkampf eine vorteilhafte Position zu gewinnen. Durch eine simplifizierende Rezeption der Gegentheorie wird jedes Innovationspotential des Anderen bestritten und nur für sich selbst in Anspruch genommen. In dieser Hinsicht leistete die „Frankfurter Schule“ zweifellos gute Arbeit zugunsten der eigenen Instituts-Karriere.
Die Kritik, welche die „Frankfurter Schule“ seit ihren Anfängen an Mannheim geübt hat, hat einen starken Einfluss auf das Bild gehabt, welches wir noch heute von seiner Soziologie vorfinden. Die zentralen Gegenbilder, die laut „Frankfurter Schule“ Mannheims Soziologie ausmachen, sind bis heute essentials von Mannheims Rezeptionsgeschichte. Die beiden wichtigsten sind die Idee eines metaphysischen, „totalen Ideologiebegriffs“ und die Idee einer harmonisierenden „freischwebenden Intelligenz“.10 Wenn wir aber einen adäquaten Zugang zu Mannheims Soziologie und besonders zu der Art, die er in Frankfurt zu etablieren suchte und die ihn berühmt machte, gewinnen wollen, sollten wir uns von der einseitigen Rezeption durch die „Frankfurter Schule“ befreien.
Im folgenden soll Mannheims Frankfurter Soziologiekonzept angemessen präsentiert werden. Auf Grund dieser Präsentation wird deutlich werden, dass die „Frankfurter Schule“ auch einen anderen Zugang zu Mannheims Soziologie hätte gewinnen können, wenn die Konkurrenzsituation sie nicht zu einer Simplifizierung des „Gegners“ verleitet hätte. Mein Bestreben richtet sich also darauf, nicht nur zu beschreiben, wie sich die Konkurrenzbeziehung zwischen Mannheim und der „Frankfurter Schule“ darstellt, sondern auch was sich hinter dieser Beziehung verbirgt und wie sie sich hätte anders entwickeln können. Bei diesen Bemühen folge ich, wenn man so will, einer Anweisung Adornos: „Wenn Sie mich fragen, was Soziologie eigentlich sein sollte, dann würde ich sagen, es muss die Einsicht in die Gesellschaft sein, in das Wesentlich der Gesellschaft, Einsicht in das, was ist, aber in einem solchen Sinn, dass diese Einsicht kritisch ist, indem sie das, was gesellschaftlich ‚der Fall’ ist (...), an dem misst, was sie selbst zu sein beansprucht, um in diesem Wiederspruch zugleich die Potentiale, die Möglichkeiten einer Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung aufzuspüren“ (Adorno 1993: 31). Darausfolgend soll nicht nur gezeigt werden, was in der Auseinandersetzung zwischen Mannheim und dem Institut für Sozialforschung der Fall war bzw. nicht war, sondern dies auch an dem gemessen werden, was hätte sein können.
Mannheims Soziologisches Seminar in Frankfurt
In der Sekundärliteratur zu Mannheims Soziologie ist seine Tätigkeit der letzten Jahre in Deutschland kaum abgehandelt worden. Dies hat sich zu ändern begonnen, nachdem einige Materialien zur ersten Frankfurter Vorlesung des Sommersemesters 1930 veröffentlicht worden sind. Diese Materialien wurden im Jahre 2000 zusammen mit einer „Reihe von Studien zur werkgenetischen und systematischen Einordnung dieser Vorlesung“ (Endreß/Sruber 2000: 7) unter dem Titel Karl Mannheims Analyse der Moderne publiziert.11 Die Herausgeber des Bandes, Martin Endreß und Ilja Sruber, wiesen mit Recht darauf hin, dass es sich in Anbetracht der spärlichen Datenlage zu Mannheims Frankfurter Jahren bei diesen Dokumenten um bedeutende Funde handelt. Unbeschadet dessen hat sich gezeigt, dass sie nicht nur ein Fundus sind, um Mannheims unerforschter Tätigkeit nachzuspüren, sondern auch, um ein besseres Verständnis seiner Soziologie zu gewinnen. Mannheims Vorhaben, ein innovatives Konzept von Soziologie zu entwickeln, ist bereits in seinen vorangehenden Veröffentlichungen abzulesen und hat in seinem Frankfurter Lehr- und Forschungsprogramm Entfaltung und Konkretisierung erfahren.12 Die Analyse von Mannheims Programm kann also nicht nur eine Lücke in der Mannheim-Forschung und in der Erforschung der Geschichte der Universität Frankfurt schließen, sondern auch einen besonderen Blick auf Mannheims Soziologie vermitteln.
In seiner ersten Vorlesung im Sommersemester 1930 wollte Mannheim die Studenten mit seiner Art Soziologie bekannt machen: Die Soziologie wird nicht als ein Fach mit bestimmten Inhalten präsentiert. Sie wird vielmehr als eine Lebenshaltung vorgestellt, die den gesamten Menschen, der sich darauf einlässt, ändern wird.13 Die Studenten müssen, wenn sie Soziologen im Sinne Mannheims werden wollen, die Methode des Relationierens, die Methode der Distanzierung, im eigenen Leben und in den eigenen Erfahrungen nachvollziehen können. Diese Methode besteht darin, wie Mannheim bereits in seinen früheren methodologischen Schriften formuliert hat (Mannheim 1926, 1980), die immanente Einstellung, die normalerweise im alltäglichen Leben eingenommen wird, zu verlassen und durch Distanzierung von ihm dieses Leben in Beziehung zu seiner Entstehungskonstellation und seiner sozialen Bedeutung zu setzen.
Um die spezifische Einstellung des Soziologen zum alltäglichen Leben in einer klaren und nachvollziehbaren Form darzustellen, benutzt Mannheim in der Vorlesung ein einfaches Beispiel, welches er dann auch in seinem programmatischen Text über die Wissenssoziologie von 1931 verwendet (Mannheim 1995: 241). Mannheim versucht die Studenten darauf aufmerksam zu machen, daß sie höchstwahrscheinlich schon mit der Variabilität des Lebens konfrontiert worden sind und dabei – noch so unbewusst - die Haltung des Soziologen eingenommen haben. Der Student, der z. B. als Bauernsohn im engen Bezirk eines Dorfes aufgewachsen ist und diese Umgebung verlässt, um jetzt in das Leben einer Stadt einzudringen, muss diese Erfahrung unweigerlich gemacht haben. Für diesen Studenten war das Denken und Reden in der Weise des Dorfes früher etwas Selbstverständliches. Sein Leben in dieser Umgebung, welches er bisher immanent verbracht hat, wird er jetzt in der Stadt mit anderen Augen anschauen. Er wird sich von diesem Leben distanzieren, weil er in eine andere Umgebung geraten ist, die ihm einen anderen Standpunkt verliehen hat, aufgrund dessen er über sein früheres Leben zu reflektieren beginnen kann. Wenn er nach Hause zurückkehrt, wird er die Möglichkeit haben, all die „Gewohnheiten“, die er früher für „natürlich“ angesehen hat, als dieser Lebenssituation geschuldet zu verstehen. Er wird jetzt sogar zwischen Denk- und Lebensweisen unterscheiden können, die typisch für seine frühere Situation waren, und anderen, die zu seiner neuen Situation gehören. Er kann schon eine grobe Typologie von Stilen ausbilden und die Bezeichnung „dörflich“ für die erste Lebensform, die Bezeichnung „städtisch“ für die zweite benutzen. Doch hat er den „dörflichen“ Stil aufgeben müssen, um das, was innerhalb seiner Gruppe als selbstverständlich galt, jetzt als Außenstehender für „dörflich“ zu erkennen. Damit verfolgt der Student prinzipiell jetzt schon die Methode, die Mannheim ihm eröffnen will. Als Soziologe soll der Student diese Distanzierungsleistung zu einer reflektiert-reflektierenden Methode weiter entwickeln.
Die in der Vorlesung präsentierte Methode wurde von Mannheim in den Seminaren und Übungen systematisch angewandt. In den Analysen von Mannheims Vorlesung wurde bisher das Gegenteil behauptet, nämlich, dass man heute „kaum auf die Idee verfallen“ würde, „dass eine Person für beides (Vorlesung und Seminare) verantwortlich war“ (Fleck 2000: 245). Nach Fleck hielt Mannheim eine dunkle, sich nur in Andeutungen ergehende Vorlesung (Fleck 2000: 247), die im totalen Wiederspruch zu den klaren Forschungsprojekten über gegenwartsbezogene Themen stand, die von den Studenten in den Seminaren verfolgt wurden. Fleck scheint keinen richtigen Zugang zu dieser Vorlesung gefunden zu haben, weswegen es ihm schwer fällt zu glauben, dass die Studenten diese verstanden haben könnten. Die Studenten haben die Vorlesung aber wohl sehr gut verstanden, Beweis dafür sind die Dokumente, die von den Studenten erhalten geblieben sind. Besonders von dem Studenten Kurt Wolff sind viele Notizen und Schriften aus seiner Studienzeit überliefert, anhand derer man deutlich verfolgen kann, wie Mannheims Methode der Distanzierung von ihm reflektiert worden ist.14
Aus den Übungs- und Seminararbeiten der Studenten erfahren wir auch, wie Mannheim die Einstellung und Methode, die er in der Vorlesung vorstellte, zum angewandten Programm machte. Mannheim verfolgte ein einheitliches Konzept. In der Vorlesung sollten die Studenten die soziologische Haltung kennenlernen, in den Seminaren und Übungen diese dann konkret umsetzen. Der Methode der Distanzierung entsprechend, gab Mannheim seinen Studenten die Anweisung, Forschungsthemen auszuwählen, zu denen sie schon in einer direkten Beziehung (in einer immanenten Einstellung) standen.15 Die Methode beruhte also tatsächlich darauf, sich von seinem eigenen bisherigen Leben zu distanzieren, um dieses immanent gelebte und insofern bekannte Leben jetzt als Dokument einer bestimmten Seinslage zu verstehen. Durch diese Methode wurde es möglich, den Stil und die Lebenseigentümlichkeit der Gruppe von Menschen, zu der der Student selber gehört hatte, distanziert zu untersuchen. Die Studentin Nina Rubinstein zum Beispiel, die aus einer russischen adligen Familie stammte, die nach Deutschland hatte emigrieren müssen, unternahm in ihrer Doktorarbeit einen Vergleich der Emigration nach der Französischen mit der nach der Russischen Revolution (Rubinstein 2000). Eine andere Studentin, Ilse Seglow, die früher Schauspielerin gewesen war und immer noch Kontakt zum Theaterleben hatte, erstellte eine Arbeit über dieses ihr vertraute Milieu (Seglow 1977). Kurt Wolff, der schon damals Gedichte und Essays schrieb, fing an, eine Untersuchung über die Dichter seiner Heimatstadt Darmstadt zu schreiben.16 Gisèle Freund, die damals nur „Hobbyphotographin“ war, entschied sich, eine Untersuchung über die Entstehung der Photographie zu verfassen (Freund 1977). Sallis-Freudentahl, die schon eine „Karriere“ als Hausfrau hinter sich hatte, entschied sich „nach bitter-süßer Neigung und Erfahrung für den Haushalt“ (Sallis-Freudentahl 1977) als Thema. Sie wählte ein Forschungsgebiet, das sie aus eigener Erfahrung bestens kannte. Eine andere Studentin, Käthe Truhel, die „staatlich geprüfte Wohlfahrtspflegerin“ gewesen war, entschied sich gleichfalls für eine Analyse ihres früheren Berufes. Sie führte eine Sozialanalyse der einschlägigen Bürokratien durch, in der sie sich hauptsächlich mit den ersten Sozialbeamtinnen und Frauenberufsverbänden beschäftigte.
Dies sind nur einige der Arbeiten, die im Rahmen von Mannheims Seminaren entstanden sind, in denen die Methode der Distanzierung konkret angewandt wurde. Die erste Vorlesung hatte also tatsächlich den Charakter einer programmatischen Ankündigung dessen gehabt, was Mannheim in den weiteren Semestern in Gang setzten wollte. Mannheim hielt, bis er Deutschland verlassen musste, mehrere Vorlesungen und Seminare, in denen die Methode der Distanzierung aber auch noch andere Ziele seines Programms vorgestellt und realisiert wurden. Wir können einige dieser anderen Ziele hier nur kurz benennen:
Mannheims Soziologieprogramm
(1) Zu Mannheims Soziologieprogramm gehörte die Vermittlung seiner wissenssoziologischen Untersuchungen. Schon im ersten Semester bot er ein Seminar über „Soziologische Geschichte der politischen Theorie“ an, in dem Mannheim den Studenten die wissenssoziologische Analyse nahe zu bringen versuchte, die er in seiner Habilitationsschrift über das konservative Denken und in seinem Buch „Ideologie und Utopie“ zur Untersuchung der verschiedenen Denkstile und politischen Strömungen der Vergangenheit und Gegenwart angewandt hatte. Dieses Vorhaben, die verschiedenen intellektuellen und politischen Strömungen konkret zu untersuchen, wurde schon in der Eröffnungsvorlesung angekündigt (Mannheim 1930: 82). Die Vorlesung hatte die Funktion, den Studenten zu zeigen, dass die Analyse von vergangenen Denkstilen eine gegenwärtige Aufgabe sei, da die verschiedenen Einstellungen, die Intellektuelle gegenwärtig einnehmen, nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern eine Vorgeschichte besitzen und an frühere Denkstile anknüpfen. Mannheim wollte in seiner ersten Vorlesung den Studenten so nah wie möglich kommen und behandelte deswegen vor allem die Denkströmungen, die für ihre Zeit prägend waren. Und unter ihnen befand sich nicht nur die Denkweise, die er selbst vertrat, sondern unter sie zählten auch die Gegenrichtungen, die Gegner seiner Denkweise, wie der Faschismus und der orthodoxe Marxismus. Obwohl in den Seminaren auch die verschiedenen politischen und intellektuellen Strömungen der Vergangenheit analysiert werden sollten, blieb der Gegenwartsbezug immer deutlich. Die konkreten wissenssoziologischen Untersuchungen sollten u.a. als Vergangenheitsanalyse dienen, aber stets mit dem Ziel, eine Gegenwartanalyse, ja sogar Selbstanalyse zu erzielen.17
(2) Eine andere wichtige Aufgabe seiner Frankfurter Zeit sah Mannheim darin, seine wissenssoziologischen Forschungen in einem interdisziplinären Kreis weiterzuführen.18 Ab dem Wintersemester 1931/32 wird Mannheim das Seminar über „Soziologische Geschichte der politischen Theorie“ zusammen mit anderen Kollegen veranstalten. Mannheim wollte generell das soziologische Seminar in einen interdisziplinären Forschungskreis umgestalten. Wie er schon bei der Vorbereitung seiner Premiere in Frankfurt dem Vorsitzenden des Kuratoriums, Kurt Riezler, mitgeteilt hatte, sollte die Soziologie „ganz besonders in der Form, wie ich sie vertrete, die Aufgabe (haben), sogenannte ‚Querverbindungen’ zwischen Einzelndisziplinen herzustellen [...]“ (Mannheim 1997: 38, siehe auch Mannheim 1932: 4f. und 52ff.). Wegen der Verbindung zu anderen Disziplinen suchte Mannheim, wie schon erwähnt, die Kooperation mit dem Ökonomen Adolph Löwe, dem Politologen Ludwig Bergsträsser und dem Historiker Ulrich Noack.19 Eine Kooperation mit Max Horkheimer kam nicht zustande, obwohl dieser seinen thematischen Interessen nach sehr gut in den Arbeitkreis gepasst hätte.20 Das Seminar über „Sozialgeschichte und Ideengeschichte“ wurde im Vorlesungsverzeichnis ausdrücklich als „Soziologische Arbeitsgemeinschaft“ bezeichnet. Diese hatte seit dem Sommersemester 1932 die Aufgabe, den Frühliberalismus in Deutschland zu analysieren. Das Seminar wurde demzufolge als „Liberalismus-Seminar“ bekannt und bekam den Charakter einer ausgesprochenen Erfolgveranstaltung. Mannheims Student Hans Gerth erinnert sich, daß das Seminar sich zu „einer Riesenmaschinerie“ entwickelte, mit 80 Teilnehmern, die auch nach den 14-tägigen Sitzungen von den Assistenten weiter betreut wurden, da viele der Studenten im Seminar Einzelforschungen unternahmen (Greffrath 1989: 63).