Jürgen Habermas: Unterschied zwischen den Versionen

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    * 2006 Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen – Ministerpräsident Jürgen Rüttgers begründete die Auszeichnung für Habermas am 7. November 2006 auf dem Petersberg bei Bonn damit, dass der Philosoph „ein großer Denker europäischer Kultur“ sei und „in der Tradition unseres Abendlandes und der Aufklärung“ stehe.
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* 2006 Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen – Ministerpräsident Jürgen Rüttgers begründete die Auszeichnung für Habermas am 7. November 2006 auf dem Petersberg bei Bonn damit, dass der Philosoph „ein großer Denker europäischer Kultur“ sei und „in der Tradition unseres Abendlandes und der Aufklärung“ stehe.
 
 
  
 
== Bibliografie (Auswahl) ==
 
== Bibliografie (Auswahl) ==

Version vom 27. Januar 2010, 11:53 Uhr

[1] - Wikipedia_Jürgen Habermas

Jürgen Habermas (* 18. Juni 1929 in Düsseldorf) ist ein deutscher Philosoph und Soziologe, der hauptsächlich durch seine Arbeiten zur Sozialphilosophie bekannt geworden ist. Nicht zuletzt durch regelmäßige Lehrtätigkeiten an ausländischen Universitäten, vor allem in den USA, sowie durch Übersetzungen seiner wichtigsten Arbeiten werden seine Theorien international diskutiert. Jürgen Habermas ist das prominenteste Mitglied der zweiten Generation der Kritischen Theorie; er wird zur Frankfurter Schule gezählt, hat sich von deren Ursprung allerdings gelöst.

Aufgrund der Vielfalt seiner philosophischen und sozialwissenschaftlichen Aktivitäten gilt Habermas als ein schwer einzuordnender Denker. Er verband den historischen Materialismus von Marx mit dem amerikanischen Pragmatismus, der Entwicklungstheorie von Piaget und Kohlberg und der Psychoanalyse von Freud. Zudem beeinflusste er maßgeblich die Entwicklung der deutschen Sozialwissenschaften, die Moral- und Sozialphilosophie und entwickelte eine vielbeachtete Diskurstheorie der Moral und des Rechts.

Habermas war an allen großen theoretischen Debatten der Bundesrepublik beteiligt, nahm aber auch zu gesellschaftspolitischen und historischen Ereignissen Stellung. Als übergeordnetes Motiv seines umfassenden Werks gilt ihm „die Versöhnung der mit sich selber zerfallenden Moderne“.[1] Dazu verfolgt er die Strategie, „die universalistischen Fragestellungen der Transzendentalphilosophie, bei gleichzeitiger Detranszendentalisierung des Vorgehens und der Beweisziele, aufzunehmen“ und dabei insbesondere auf Letztbegründungen zu verzichten. Habermas wurde in Düsseldorf geboren, wuchs aber in der nahe gelegenen Kleinstadt Gummersbach auf, wo sein Vater, Ernst Habermas, Geschäftsführer der dortigen Geschäftsstelle der Industrie- und Handelskammer zu Köln war. Das politische Klima in seinem Elternhaus beschreibt er als „geprägt durch eine bürgerliche Anpassung an eine politische Umgebung, mit der man sich nicht voll identifizierte, die man aber auch nicht ernsthaft kritisierte“.[3]

Habermas war Mitglied der Hitlerjugend und wurde im Herbst 1944 als Fronthelfer an den Westwall geschickt. Seine Mitgliedschaft in der Hitlerjugend bildete im Jahr 2006 den Anlass zu einer heftigen Polemik. Joachim Fest hatte Habermas in seiner posthum erschienenen Autobiographie als einen „dem Regime in allen Fasern seiner Existenz verbundenen HJ-Führer“ bezeichnet.[4] Der Vorwurf, der vom Magazin Cicero veröffentlicht und von Habermas als „Denunziation“ zurückgewiesen wurde, erschien schließlich nach einer Zeugenaussage von Hans-Ulrich Wehler als haltlos.[5]

Zwischen 1949 und 1954 studierte Habermas an den Universitäten Göttingen (1949/50), Zürich (1950/51) und Bonn (1951–54). Er befasste sich mit Philosophie, Geschichte, Psychologie, deutscher Literatur und Ökonomie. Zu seinen Lehrern gehörten Nicolai Hartmann, Wilhelm Keller, Theodor Litt, Johannes Thyssen und Hermann Wein, Erich Rothacker und Oskar Becker.

Im Wintersemester 1950/51 begegnete Habermas erstmals Karl-Otto Apel, dessen „engagiertes Denken“[6] und Interesse für den amerikanischen Pragmatismus für seine weitere philosophische Entwicklung von großer Bedeutung wurde.

1953 erregte Habermas zum ersten Mal öffentliches Aufsehen, als er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Rezension zu Heideggers „Einführung in die Metaphysik“ verfasste, die im selben Jahr erschienen war. Heidegger hatte dort die „innere Wahrheit und Größe“ der nationalsozialistischen Bewegung hervorgehoben, was Habermas als „Rehabilitation“ des Nationalsozialismus scharf verurteilte.

Im Jahre 1954 promovierte Habermas in Bonn mit einer Arbeit über Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken bei Erich Rothacker und Oskar Becker. Nach der Promotion betätigte er sich als freier Journalist für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Merkur, die Frankfurter Hefte und das Düsseldorfer Handelsblatt. 1955 heiratete er Ute Wesselhoeft, mit der er drei Kinder hat.

Assistent in Frankfurt, Habilitation und außerordentlicher Professor [Bearbeiten]

Ein Stipendium brachte Habermas 1956 nach Frankfurt ans Institut für Sozialforschung. In seiner dortigen Assistenzzeit bei Theodor W. Adorno lernte Habermas das Denken der Frankfurter Schule kennen. In besonderem Maße wurde er von Herbert Marcuse beeinflusst, dem er 1956 begegnete. Habermas entwickelte daraufhin eine an Freud und dem jungen Marx orientierte Auffassung vom Marxismus. Konflikte mit Max Horkheimer, der seine Habilitationsschrift hätte betreuen sollen, bewegten ihn dazu, das Institut für Sozialforschung 1959 wieder zu verlassen. Er bekam ein Habilitationsstipendium der DFG und habilitierte sich 1961 in Marburg bei Wolfgang Abendroth mit der vielbeachteten Schrift Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft.

Bereits 1961, noch vor Abschluss seines Habilitationsverfahrens, wurde Habermas nach Vermittlung von Gadamer außerordentlicher Professor an der Universität Heidelberg, wo er bis 1964 lehrte. Der Kontakt mit Gadamer veranlasste ihn, sich mit dessen Hermeneutik auseinanderzusetzen. Außerdem beschäftigte sich Habermas in dieser Zeit mit der Analytischen Philosophie – vor allem der Spätphilosophie Wittgensteins – und dem amerikanischen Pragmatismus, besonders Peirce, Mead und Dewey. In den Jahren 1963–1965 beteiligte sich Habermas am Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, der ihn dazu motivierte, den erkenntnistheoretischen Status der Sozialwissenschaften zu untersuchen. In dieser Auseinandersetzung entstanden diverse Aufsätze und eines seiner einflussreichsten Werke, Erkenntnis und Interesse (1968).

Professor für Philosophie und Soziologie

Im Jahr 1965 ging Habermas nach Frankfurt, wo er den Lehrstuhl Horkheimers für Philosophie und Soziologie übernahm. Er erlebte dort die Zeit der Studentenrevolte, in der er eine exponierte Rolle spielte. Bereits in den 1950er Jahren war Habermas für demokratische Reformen des Bildungswesens und der Hochschulen eingetreten und wurde so als Vertreter der „Linken“ zu einem geistigen Anreger der Studentenbewegung 1967/68; es kam aber schon bald zu Konfrontationen zwischen Habermas und radikalen Studenten. Während der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre prägte er die Positionen der sogenannten „verfassungsloyalen“ Linken entscheidend mit. Dabei ging er zunehmend auf Distanz zu den radikaleren Studentengruppen um Rudi Dutschke, denen er den Vorwurf des „Linksfaschismus“ machte (eine Zuschreibung, die er später bedauerte).


Direktor am Starnberger Max-Planck-Institut

Er wechselte 1971 nach Starnberg bei München, wo er bis 1981 gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt leitete. Im selben Jahr fand die Debatte mit Luhmann über dessen Systemtheorie statt. 1973 wurde Habermas der Hegel-Preis der Stadt Stuttgart, 1976 der Sigmund-Freud-Preis verliehen.

Der „Deutsche Herbst“ 1977, der eine Ausweitung des „Radikalenerlasses“ von 1972 zur Folge hatte, forderte Habermas heraus, verstärkt zu tagespolitischen Streitpunkten Stellung zu beziehen und sich mit der Theorie des Neokonservatismus und seiner Kritik an der Moderne auseinanderzusetzen.

1980 erhielt er den Theodor-W.-Adorno-Preis. 1981 veröffentlichte er sein Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns, in dem er sich unter anderem auf George Herbert Mead, Max Weber, Émile Durkheim und Talcott Parsons bezog.

Professor für Philosophie

Nach Meinungsverschiedenheit mit Mitarbeitern des Starnberger Max-Planck-Instituts kehrte er im selben Jahr nach Frankfurt zurück, wo er von 1983 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1994 den Lehrstuhl für Philosophie mit dem Schwerpunkt Sozial- und Geschichtsphilosophie übernahm.

Mitte der 1980er Jahre widmete sich Habermas im Rahmen eines von der Leibniz-Gemeinschaft und der DFG finanzierten fünfjährigen Forschungsprojekts rechtstheoretischen Fragestellungen und entwickelte in Faktizität und Geltung (1992) seine eigene Rechtsphilosophie.

Im Jahr 1986 kritisierte Habermas in dem Artikel Eine Art Schadensabwicklung[7] das Unternehmen einer Gruppe von Historikern um Ernst Nolte, den Nationalsozialismus mit dem Stalinismus auf eine Stufe zu stellen. Der Beitrag stieß auf teilweise heftige Reaktionen und löste in der Folge den mit großer Polemik ausgetragenen Historikerstreit aus.

An der deutschen Wiedervereinigung (1990) kritisierte Habermas den Charakter eines „auf wirtschaftliche Imperative zugeschnittenen Verwaltungsvorgangs“ ohne „eigene demokratische Dynamik“.[8]


Nach der Emeritierung

Auch nach seiner Emeritierung 1994 meldete sich Habermas immer wieder publizistisch zu Wort. Im März 1999 bezog er in der Zeitschrift Die Zeit abwägend gegen den Kosovokrieg Stellung.[9] Die im selben Jahr durch Peter Sloterdijks Rede Regeln für den Menschenpark ausgelöste Kontroverse um das Thema der Eugenik veranlasste Habermas 2001 zu der Veröffentlichung Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?

In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Kyoto Preises, Freiheit und Determinismus (2004), setzte er sich außerdem mit der durch die aktuelle Hirnforschung aufgeworfenen Frage über die Freiheit des Menschen auseinander.

Seit 1997 ist Jürgen Habermas Mitherausgeber der politisch-wissenschaftlichen Monatszeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik. Am 15. September 2007 eröffnete er in Rom einen dreitägigen Kongress mit dem Titel Religion und Politik in der postsäkularen Gesellschaft.[10]

Die Anfänge: Heidegger und Lukács

Der junge Habermas war stark vom Denken Martin Heideggers beeinflusst. So hatte er in seiner Dissertation Das Absolute und die Geschichte (1954) die Entwicklung des Begriffs des Absoluten im Werk Schellings auf dem Hintergrund von Heideggers Sein und Zeit interpretiert. Im Mittelpunkt von Habermas’ Interesse steht dabei Schellings Werk Die Weltalter, das er als eine „wesentlich anthropologisch orientierte“ Geschichte des Seins versteht. Es nehme dabei bereits Themen der Existenzphilosophie Heideggers wie „die Not der geschichtlichen Existenz: Schmerz, Zerrissenheit, Zweifel, Anstrengung, Überwindung und Streit“ vorweg.[11]

Einen starken Einfluss übte darüber hinaus die frühe Lektüre von Georg Lukács Geschichte und Klassenbewußtsein aus. Insbesondere die von Lukács darin entwickelte Theorie der Verdinglichung führte Habermas dazu, sich mit dem Marxismus stärker zu beschäftigen, ohne sich zunächst vom Denken Heideggers zu entfernen.


Wandel der Technik- und Marxkritik

In seinem 1954 veröffentlichten Aufsatz Die Dialektik der Rationalisierung, der bereits viele Kerngedanken seines Hauptwerks Theorie des kommunikativen Handelns (1981) enthält, entwickelt Habermas im Anschluss an Lukács eine Theorie der kapitalistischen Rationalisierung. Habermas unterscheidet eine technische (der Produktion), ökonomische (der betrieblichen Organisation) und soziale Rationalisierung der Arbeit. Die Rationalisierung habe zwar die physische Belastung der Arbeiter reduziert, ihre mentale aber erhöht. Habermas plädiert für eine neue Askese und fordert eine Befreiung der Individuen von der Tyrannei der falschen Bedürfnisse. Habermas äußert in diesem Aufsatz seine Vorbehalte gegenüber der modernen Technik und wirft Marx vor, deren Rolle übersehen zu haben.

Diese Kritik an Marx wiederholt Habermas in seinem Aufsatz Marx in Perspektiven (1955). Marx habe nicht begriffen, dass „die Technik selbst, und nicht erst eine bestimmte Wirtschaftsverfassung, unter der sie arbeitet, die Menschen, die arbeitenden wie die konsumierenden, mit ‚Entfremdung’ überzieht“.[12]

Mit dem Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus (1957) beginnt Habermas’ Annäherung an Marx und die Abkehr vom Denken Heideggers. Habermas schließt sich darin dem Gedanken Marx’ an, dass das Phänomen der Entfremdung keine existenzielle Dimension des Menschen darstellt, sondern als Ergebnis bestimmter sozialer Verhältnisse anzusehen ist. Sie ist „nicht Chiffre eines metaphysischen Unfalls, sondern Titel einer faktisch vorgefundenen Situation“.[13] In seinem Aufsatz Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freiheit (1958) korrigiert Habermas seine Sicht der Technik. Nicht mehr sie selbst, sondern deren falscher politischer Gebrauch stellt die Ursache der menschlichen Entfremdung dar.


Philosophische Anthropologie

In seinem 1958 für das Fischer-Lexikon Philosophie verfassten Artikel Philosophische Anthropologie widerspricht Habermas der traditionellen Auffassung der Disziplin von der unveränderlichen Natur des Menschen. Stattdessen ergreift Habermas Partei zugunsten der These seines Doktorvaters Rothacker von der geschichtlichen Dimension der menschlichen Natur: „Die Menschen leben und handeln nur in den konkreten Lebenswelten je ihrer Gesellschaft, niemals in ‚der’ Welt“.[14] Der „ontologische“ Charakter der traditionellen Anthropologie birgt für Habermas die Gefahr „einer Dogmatik mit politischen Konsequenzen, die um so gefährlicher ist, wo sie mit dem Anspruch wertfreier Wissenschaft auftritt“.[15]

Demokratie und Öffentlichkeit

Student und Politik

Im Vorwort der 1961 zusammen mit Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler und Friedrich Weltz erstellten Studie Student und Politik über das politische Verhalten deutscher Studenten, legt Habermas erstmals seine Auffassung von Demokratie und bürgerlichem Rechtsstaat vor, die in ihren Grundzügen bis zur Publikation von Faktizität und Geltung (1992) unverändert bleibt. Das Wesen der Demokratie ist für Habermas wesentlich durch den Begriff der politischen Partizipation gekennzeichnet. Diese realisiere sich, indem „mündige Bürger unter Bedingungen einer politisch fungierenden Öffentlichkeit, durch einsichtige Delegation ihres Willens und durch wirksame Kontrolle seiner Ausführung die Einrichtung ihres gesellschaftlichen Lebens selbst in die Hand nehmen“ und so „personale Autorität in rationale“ überführen.[16] Damit sei Demokratie die politische Gesellschaftsform, die „die Freiheit der Menschen steigern und am Ende vielleicht ganz herstellen könnte“.[17] Sie werde erst dann wirklich „wahr“, wenn in ihr die „Selbstbestimmung der Menschheit“ wirklich geworden ist.

Diese Idee der Herrschaft des Volkes sei dabei aber im modernen Verfassungsstaat in Vergessenheit geraten. Habermas kritisiert eine „Verlagerung des Schwergewichts vom Parlament weg auf Verwaltung und Parteien“,[18] womit die Öffentlichkeit auf der Strecke bleibe. Der Bürger unterstehe zwar „in fast allen Bereichen täglich“ der Verwaltung, was er aber nicht als erweiterte Partizipation, sondern als eine Art Fremdbestimmung erlebe, der gegenüber er eine am Eigeninteresse orientierte Handlung einnehme. Die Parteien hätten sich gegenüber dem Parlament und dem Wähler verselbständigt. Das Parlament sei zu einer Stätte geworden, „an der sich weisungsgebundene Parteibeauftragte treffen, um bereits getroffene Entscheidungen registrieren zu lassen“.[19] Mit dem Verschwinden der Klassenparteien und der Entstehung der modernen „Integrationsparteien“ sei auch der Unterschied der Parteien untereinander verloren gegangen, während die politischen Gegensätze „formalisiert“ und so gut wie inhaltslos werden. Für den Bürger sei „juristisch der Status eines Kunden vorgesehen […], der zwar am Ende die Zeche bezahlen muss, für den im übrigen aber alles derart vorbereitet ist, dass er selber nicht nur nichts zu tun braucht, sondern auch nicht mehr viel tun kann“.[20]

Strukturwandel der Öffentlichkeit In der 1962 erschienenen Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit stellt Habermas den Begriff der „Öffentlichkeit“ in den Vordergrund, der für den bürgerlichen Verfassungsstaat von zentraler Bedeutung sei.

Habermas zeigt anhand historischer Beispiele, wie „die politische Öffentlichkeit aus der literarischen“ hervorgegangen ist.[21] In den um die Mitte des 17. Jahrhunderts gegründeten Kaffeehäusern, Salons und Tischgesellschaften bildeten sich Kristallisationspunkte der Öffentlichkeit. Ihre Gespräche kreisten zunächst um Kunst und Literatur, erweiterten sich aber bald um ökonomische und politische Inhalte. Unter den Mitgliedern herrschte Gleichberechtigung und die Macht des Arguments.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts sieht Habermas den öffentlichen Diskurs zunehmend gefährdet. Die Publizität gerät durch verschärften kapitalistischen Konkurrenzdruck in den Sog von partikularen Interessen. Mit Entstehung der Massenpresse und den ihr eigenen technischen und kommerziellen Gegebenheiten erfolgt eine „Refeudalisierung der Öffentlichkeit“:[22] Die Kommunikation wird wieder eingeschränkt und dem Einfluss einzelner Großinvestoren unterworfen.

Um die kritische Funktion von Öffentlichkeit in der Gegenwart wieder herzustellen, müssen „die in der politischen Öffentlichkeit agierenden Mächte dem demokratischen Öffentlichkeitsgebot effektiv unterworfen werden“. Außerdem müsse es gelingen, die „strukturellen Interessenskonflikte nach Maßgabe eines erkennbaren Allgemeininteresses“ zu relativieren. Dies könnte erreicht werden, wenn es zum einen gelingt, eine „Gesellschaft im Überfluss beschleunigt herbeizuführen, die einen von knappen Mitteln diktierten Ausgleich der Interessen als solchen erübrigt“. Zum anderen habe „der noch unbewältigte Naturzustand zwischen den Völkern“ ein solches „Ausmaß allgemeiner Bedrohung“ angenommen, dass sich „ein allgemeines Interesse“ an der Herbeiführung eines „ewigen Friedens“ im Kantischen Sinne ergibt.[23]

  • Verständlichkeit: Der Sprecher unterstellt das Verständnis der gebrauchten Ausdrücke. Bei Unverständnis wird zur Explikation durch den Sprecher aufgefordert.
  • Wahrheit: Bezüglich des propositionalen Gehalts der Sprechakte wird Wahrheit unterstellt. Wird diese bezweifelt, muss ein Diskurs klären, ob der Anspruch des Sprechers zurecht besteht.
  • Richtigkeit: Die Richtigkeit der Norm, die mit dem Sprechakt erfüllt wird, muss anerkannt werden. Auch dieser Geltungsanspruch ist nur diskursiv einlösbar.
  • Wahrhaftigkeit: Die Sprecher unterstellen sich gegenseitig Wahrhaftigkeit (Aufrichtigkeit). Erweist sich diese Antizipation als kontrafaktisch, kann der Hintergrundkonsens nicht mit dem unwahrhaften Sprecher selber wiederhergestellt werden.

Ideale Sprechsituation

Die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen erfolgt im Konsens, der aber kein zufälliger, sondern ein begründeter sein muss, so dass „jeder andere, der in ein Gespräch mit mir eintreten könnte, demselben Gegenstand das gleiche Prädikat zusprechen würde“. Um einen solchen begründeten Konsens erzielen zu können, muss eine ideale Sprechsituation vorliegen, die durch vier Bedingungen der Chancengleichheit charakterisiert ist: Chancengleichheit aller bezüglich …

  • … der Verwendung kommunikativer Sprechakte, sodass sie jederzeit Diskurse eröffnen und mit Rede und Gegenrede bzw. Frage und Antwort einsetzen können
  • … Thematisierung und Kritik sämtlicher Vormeinungen, d.h., dass sie alle sprachlichen Mittel einsetzen können, um Geltungsansprüche zu erheben bzw. einzulösen
  • … der Verwendung repräsentativer Sprechakte, die ihre Einstellung, Gefühle und Intentionen ausdrücken, sodass die Wahrhaftigkeit der Sprecher garantiert wird (Wahrhaftigkeitspostulat)
  • … der Verwendung regulativer Sprechakte, d.h. zu befehlen, sich zu widersetzen, zu erlauben, zu verbieten usw.

Eine solche ideale Sprechsituation hat nach Habermas weder den Status eines empirischen Phänomens, da jede Rede raumzeitlichen wie psychischen Restriktionen unterworfen ist, noch ist sie ein ideales Konstrukt. Sie ist vielmehr „eine in Diskursen reziprok vorgenommene Unterstellung“,[32] die kontrafaktisch sein kann. Soll der vernünftige Charakter der Rede nicht preisgegeben werden, so muss die ideale Sprechsituation antizipiert werden und insofern ist sie auch operativ wirksam.

Konsensustheorie der Wahrheit

In seinem wichtigen Aufsatz Wahrheitstheorien[33] legt Habermas 1973 eine Konsensustheorie der Wahrheit vor.

Das, „wovon wir sagen dürfen, es sei wahr oder falsch“, sind für Habermas Aussagen mit „assertorischer Kraft“, d.h. die auch behauptet werden und deren propositionaler Gehalt eine existierende Tatsache betrifft. Wahrheit ist somit „ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaupten“. Behauptungen gehören damit zur Klasse „konstativer Sprechakte“.[34] Habermas stimmt der Redundanztheorie der Wahrheit insoweit zu, als die Aussage „p ist wahr“ der Behauptung „p“ nichts hinzufügt; allerdings liege der „pragmatische Sinn“ des Behauptens gerade in der Erhebung eines Wahrheitsanspruchs bezüglich „p“.

Über das Bestehen von Sachverhalten und damit über die Berechtigung eines Wahrheitsanspruchs entscheidet nicht die Evidenz von Erfahrungen, sondern der Gang von Argumentationen innerhalb eines Diskurses: „Die Idee der Wahrheit lässt sich nur mit Bezugnahme auf die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen entfalten“.[35] Das Prädikat „wahr“ darf nach Habermas dann und nur dann zugesprochen werden, wenn jeder andere, der in den Diskurs eintreten könnte, demselben Gegenstand dasselbe Prädikat zusprechen würde. Der vernünftige Konsens aller ist dabei die Bedingung für die Wahrheit von Aussagen.

Theorie des kommunikativen Handelns

Im Jahr 1981 erscheint Habermas’ wohl bedeutendstes Buch, die Theorie des kommunikativen Handelns. Die Motivation für das Buch ist ein seit Ende der 1960er Jahre eingetretener Zustand, „in dem das Erbe des okzidentalen Rationalismus nicht mehr unbestritten gilt“.[36] Das Buch verfolgt drei Hauptziele:[37]

  • die Entwicklung eines „Begriffs der kommunikativen Rationalität“
  • ein „zweistufiges Konzept der Gesellschaft, welches die Paradigmen Lebenswelt und System“ verknüpft
  • eine „Theorie der Moderne“

Das Werk ist geprägt von langen Passagen der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie und v.a. der Soziologie. Insbesondere durch „Rekonstruktion“ der Theorien von Weber, Lukács, Adorno, Marx, Mead, Durkheim, Parsons und Luhmann entwickelt Habermas seine eigene Gesellschaftstheorie.

Kommunikative Rationalität

Habermas weiß sich der Tradition der Frankfurter Schule verpflichtet. Er will eine Theorie entwickeln, mit deren Hilfe die Gesellschaft beschreibbar und kritisierbar ist. Während aber Horkheimer und Adorno den Prozess der Rationalisierung an sich als etwas Negatives betrachtet hatten, folgt ihnen Habermas hierin nicht. Für ihn resultiert diese Fehleinschätzung aus einer Reduktion der Vernunft auf eine „instrumentelle Rationalität“, für die der Aspekt der „Verfügung“ über andere Subjekte zentral ist. Habermas setzt dem den Begriff der „kommunikativen Rationalität“ entgegen, der die „Verständigung“ mit dem Anderen in den Vordergrund stellt.[38]

Die Formen der Rationalität korrespondieren mit entsprechenden Handlungsformen. Habermas unterscheidet – in expliziter Abgrenzung zu Poppers „Drei-Welten-Theorie“ – vier Formen des Handelns:[39]

Das teleologische Handeln bezieht sich auf die „objektive Welt“ der „Sachverhalte“. Wir entscheiden uns für eine bestimmte Handlungsalternative, die uns als das erfolgversprechendste Mittel erscheint, bestimmte Zwecke zu erreichen. Der Erfolg ist dabei zwar häufig von „anderen Aktoren“ abhängig; diese sind aber „an ihrem jeweils eigenen Erfolg orientiert“ und verhalten sich „nur in dem Maße kooperativ […] wie es ihrem egozentrischen Nutzenkalkül entspricht“.[40]

Im normenregulierten Handeln dagegen tritt der Aktor in Beziehung zu zwei Welten: der Welt der Sachverhalte und der sozialen Welt. „Eine soziale Welt besteht aus einem normativen Kontext, der festlegt, welche Interaktionen zur Gesamtheit berechtigter interpersonaler Beziehungen gehören“. Ihr gehören alle Aktoren an, „für die entsprechende Normen gelten“ und „von denen sie als gültig akzeptiert werden“.[41]

Das dramaturgische Handeln beruht auf einer Selbstdarstellung der Aktoren. Sie sind „Interaktionsteilnehmer, die füreinander ein Publikum bilden, vor dessen Augen sie sich darstellen“.[42] Diese „Selbstrepräsentation“ versteht Habermas nicht als ein „spontanes Ausdrucksverhalten“, sondern als „zuschauerbezogene Stilisierung des Ausdrucks eigener Erlebnisse“.

Im kommunikativen Handeln schließlich gewinnt die sprachliche Dimension das entscheidende Gewicht. Es bezieht sich auf die „Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten“, die „eine Verständigung über die Handlungssituation“ suchen, „um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren“.[43] Das kommunikative Handeln stellt keineswegs den „Normalfall kommunikativer Alltagspraxis“ dar, was es schwer macht, es als allgemeingültig nachzuweisen. Um diesen Nachweis zu leisten, versucht Habermas eine „Aufarbeitung der soziologischen Ansätze zu einer Theorie der gesellschaftlichen Rationalisierung“ von Weber bis Parsons.[44]

System und Lebenswelt

Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich für Habermas „stets im Horizont einer Lebenswelt“.[47] „Die Lebenswelt ist gleichsam der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen“.[48]

Der von Edmund Husserl erstmals entwickelte und von Alfred Schütz in die Soziologie eingeführte Begriff der Lebenswelt kennzeichnet die Teilnehmerperspektive der handelnden Subjekte. Er weist nach Habermas folgende Charakeristika auf:[49]

  • Die Lebenswelt „ist dem erlebenden Subjekt fraglos gegeben“ und kann „gar nicht problematisch werden“, sondern „allenfalls zusammenbrechen“.
  • Die Lebenswelt verdankt ihre Gewissheit „einem in die Intersubjektivität sprachlicher Verständigung eingebauten sozialen Apriori“.
  • Die Lebenswelt lässt sich „nicht transzendieren“, sondern bildet „einen nicht hintergehbaren und prinzipiell unerschöpflichen Kontext“.

Im Gegensatz zur Lebenswelt kennzeichnet der Systembegriff die Beobachterperspektive der Subjekte. Die ausschließliche Betrachtung der Gesellschaft als System, wie sie von Niklas Luhmann und Talcott Parsons vorgenommen wird, birgt nach Habermas die Schwäche, dass es damit nicht mehr möglich ist, „einen vernünftigen Maßstab für eine als Rationalisierung begriffene gesellschaftliche Modernisierung handlungstheoretisch zu begründen“.[50]

Habermas ist der Ansicht, dass die gesellschaftliche Entwicklung als ein Differenzierungsprozess zu verstehen ist, in dessen Verlauf „System“ und „Lebenswelt“ sich zunehmend voneinander entkoppeln, bis ein Punkt erreicht wird, an dem das „System“ die „Lebenswelt“ „kolonialisiert“ hat. Durch Ausbildung „generalisierter Steuerungsmedien“ wird die materielle Reproduktion der Gesellschaft zunehmend unabhängig von ihrer kulturellen Reproduktion. Diese Entkopplung von „Basis“ und „Überbau“ ist für Habermas ein zentrales Merkmal moderner Gesellschaften. Habermas führt drei Stufen der Entwicklung auf:

1. Traditionale Gesellschaften, in denen die „Lebenswelt“ noch nicht vom „System“ getrennt ist. Gemeint sind damit Gesellschaftsformen, deren materielle Reproduktion noch von ihrer kulturellen Wertsphäre dominiert wird; in denen kulturelle Werte (Zwänge) also noch entscheidend die Bedingungen materieller Reproduktion beeinflussen. 2. In der zweiten Stufe, historisch gesehen die Zeit von der Reformation bis zur Industrialisierung, entwickelt sich das „System“ aus der „Lebenswelt“ heraus. Unter „System“ fasst Habermas den bürokratischen Staat und den Markt zusammen. „Macht“ und „Geld“ sind die Steuerungsmedien des „Systems“, die den Menschen eine von gemeinsamen kulturellen Werten und Normen zunehmend entbundene Handlungslogik aufzwingen. Diese Übergriffe des „Systems“ auf die „Lebenswelt“ bezeichnet Habermas als „Kolonialisierung der Lebenswelt“. 3. In der dritten Stufe treten nach Habermas die Konflikte zwischen „System“ und „Lebenswelt“ offen hervor: „Heute dringen die über die Medien Geld und Macht vermittelten Imperative von Wirtschaft und Verwaltung in Bereiche ein, die irgendwie kaputt gehen, wenn man sie vom verständigungsorientierten Handeln abkoppelt und auf solche mediengesteuerten Interaktionen umstellt.“[51]

Das unvollendete Projekt der Moderne

In den 1980er Jahren setzt sich Habermas verstärkt mit philosophischen Strömungen auseinander, die der Moderne kritisch gegenüberstehen. Insbesondere stehen dabei neokonservative Strömungen und die aufkommende Philosophie der Postmoderne im Fokus. Den Ursprung bildet dabei seine Rede Die Moderne – ein unvollendetes Projekt anlässlich der Verleihung des Adornopreises im Jahre 1980. Deren Grundgedanken fließen später in die Vorlesungsreihe Der philosophische Diskurs der Moderne ein, die Habermas zwischen März 1983 und September 1984 am Collège de France in Paris, an der Universität Frankfurt und an der Cornell University in Ithaca hält.

Habermas Grundanliegen ist eine Abwehr gegenaufklärerischer Strömungen der Philosophie. Er will an dem „unvollendeten Projekt der Moderne“[52] festhalten und ihre Defizite „durch radikalisierte Aufklärung wettmachen“.[53]

„Modern“ sind für Habermas Gesellschaften, in denen die tradierten Weltbilder – die ihre Grundlage insbesondere in den Religionen haben – ihre Fähigkeit verloren haben, verbindliche Lebensdeutungen und normative Handlungsorientierung glaubwürdig zu vermitteln, und die infolgedessen gezwungen sind, „ihre Normativität aus sich selber [zu] schöpfen“.[54] Zu ihrer „Selbstvergewisserung“ und „Selbstbegründung“[55] ist es notwendig, ein Prinzip zu finden, das ein „Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion“[56] darstellt. Dieses Prinzip muss als das der gesellschaftlichen Modernisierung der Neuzeit selbst „innewohnende Prinzip“[57] ausgewiesen werden und die stabilisierende Funktionen der alten Religionen übernehmen können.

Nach Habermas hatte Hegel als erster das Problem der Selbstvergewisserung der Moderne als philosophisches Problem entdeckt und die für die weitere Diskussion maßgebliche Lösung formuliert: Die Subjektivität, verstanden als „Struktur der Selbstbeziehung“, ist sowohl Grundstruktur der Vernunft als auch „Prinzip der neuen Zeit“.[58]

Im Laufe der „Modernisierung“ wurde aber – wie bereits von Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ analysiert – deutlich, dass in der subjektzentrierten Vernunft eine Tendenz zur Verabsolutierung der Zweckrationalität und der „jeweiligen Stufe der Reflexion und der Emanzipation“[59] angelegt ist. Die sich nach Selbstvergewisserung sehnende Moderne muss dahin gebracht werden, dass sie die Dialektik der Aufklärung erkennt. Sie muss die „Rückschritte im Fortschritt“[60] zu kritisieren lernen, um die Selbstkritik der „mit sich selbst zerfallenen Moderne“ zu ermöglichen.[61]

Die im „Prinzip der Subjektivität gründende Vernunft“[62] verstrickt sich laut Habermas beim Versuch einer „totalisierenden, auf sich selbst bezogene Kritik“ in ausweglose Paradoxien.[63] Es ist ihr anscheinend unmöglich, mit den ihr verfügbaren begrifflichen Mitteln die Aufgabe einer Selbstvergewisserung der Moderne erfolgreich zu lösen.

Diese aporetische Situation der subjektiven Vernunft wird von den Kritikern der Moderne aufgegriffen. Die Vernunft habe ihnen zufolge alle „Formen der Unterdrückung und der Ausbeutung, der Entwürdigung und der Entfremdung nur denunziert und unterminiert, um an deren Stelle die unangreifbare Rationalität selbst einzusetzen“.[64]

Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei Nietzsche ein, den Habermas als „Drehscheibe“ für den Eintritt in die Postmoderne bezeichnet. Seine angestrebte radikale Vernunftkritik sollte das ganze auf Hegel zurückgehende Programm einer Selbstbegründung moderner Lebensformen aus Vernunft vollständig unterminieren. Problematisch ist dabei allerdings für Habermas, dass Nietzsche zwischen zwei Strategien „schwankt“: Einerseits versucht er, ganz auf die Philosophie zu verzichten und die Zurückführung jeweiliger Wahrheitsansprüche auf bloße Machtkonstellationen als Aufgabe einer „mit anthropologischen, psychologischen, und historischen Methoden“ arbeitenden positiven Wissenschaft aufzufassen. Andererseits hält er an der Möglichkeit einer philosophischen Vernunftkritik fest, die „die Wurzeln des metaphysischen Denkens ausgräbt, ohne sich selbst als Philosophie aufzugeben“.[65]

In der Tradition Nietzsches sieht Habermas Heidegger, Derrida und Foucault. Die Heideggersche Seinsphilosophie – und ihre „grammatologische“ Überbietung bei Derrida – bleibe ein „umgekehrter Fundamentalismus“, der sich nicht wirklich von der Problemvorgabe der traditionellen Metaphysik lösen kann und folglich keine wirkliche Überwindung der Metaphysik darstellt.[66] Die Ersetzung der autonomen Subjektivität durch anonyme seinsgeschichtliche Prozesse habe unvermeidbar die Folge, dass die Subjektivität durch ein „subjektloses Geschehen“ ersetzt wird.[67]

Foucault knüpfe an Nietzsches Entwurf einer „als Anti-Wissenschaft auftretenden, gelehrsam-positivistischen Geschichtsschreibung“[68] an; aber auch ihm gelinge es nicht, durch seine historisch angelegte Machttheorie „eine radikale Vernunftkritik durchzuführen, ohne sich in den Aporien dieses selbstbezüglichen Unternehmens zu verfangen“.[69] Die Macht, die als „irritierender Grundbegriff“ seiner Theorie fungiert[70], hat einen zweideutigen Status: Sie soll „zugleich transzendentale Erzeugungs- und empirische Selbstbehauptungsmacht sein“.[71]

Habermas zieht den Schluss, dass die Durchführung des Hegelschen Programms einer Selbstbegründung der Moderne aus Vernunft immer noch möglich und wünschenswert ist. Allerdings muss der zugrundegelegte Vernunftbegriff einer Revision unterzogen werden. Nicht die subjektzentrierte Vernunft, sondern einzig die „kommunikative Vernunft“ ist geeignet, die zugedachte Begründungsfunktion erfolgreich zu übernehmen.[72]

Diskursethik

Ausgehend von seinen Überlegungen zur Universalpragmatik entwirft Habermas ab Beginn der 80er Jahre im Dialog mit Karl-Otto Apel seine eigene Variante einer Diskursethik. Habermas stellt sie explizit in die Tradition der Kantischen Ethik, die er jedoch gleichzeitig mit kommunikationstheoretischen Mitteln neu formulieren und ihre metaphysischen Elemente „detranszendentalisieren“ will.[73] Er charakterisiert seine Diskursethik als eine „deontologische, kognitivistische, formalistische und universalistische Ethik“.[74]

kognitivistisch

Moralische Normen haben im Verständnis von Habermas einen wahrheitsanalogen Charakter.[75] Die „Sollgeltung“ moralischer Normen lässt sich einerseits zwar mit rationalen Argumenten begründen; aufgrund des gegenüber dem Wahrheitsbegriff fehlenden Realitätsbezuges ist ihre Geltung aber nur wahrheitsanalog. Die Richtigkeit moralischer Urteile stellt sich dabei für Habermas zwar einerseits „auf demselben Wege heraus wie die Wahrheit deskriptiver Aussagen – durch Argumentation“. Auf der anderen Seite „fehlt moralischen Geltungsansprüchen der für Wahrheitsansprüche charakteristische Weltbezug“.[76]

Habermas unterscheidet moralische Richtigkeit von theoretischer Wahrheit. Eine Norm erhebt Anspruch auf Gültigkeit „auch unabhängig davon, ob sie verkündet und in dieser oder jener Weise in Anspruch genommen wird“.[77] Im Gegensatz dazu besteht ein Wahrheitsanspruch niemals unabhängig von der Behauptung, in der er formuliert wird.

deontologisch

Habermas unterscheidet mit Kant zwischen den Fragen des „guten Lebens“ und Fragen des moralischen Handelns. Seine Diskursethik stellt ausschließlich die Sollgeltung moralischer Gebote und Handlungsnormen als das erklärungsbedürftige Phänomen in den Mittelpunkt und schließt damit Fragen nach dem, was es bedeutet, ein gelungenes Leben zu führen, aus dem allein Gerechtigkeitsfragen thematisierenden Bereich der Moral aus. Trotz dieser Trennung ist Habermas allerdings nicht bereit, die ethischen Folgen einer Handlung bei der Beurteilung ihres moralischen Gehaltes gänzlich außer Acht zu lassen. Der Kategorische Imperativ dient nach Habermas’ Interpretation der Überprüfung existierender moralischer Normen auf Gültigkeit; er ist als ein „Rechtfertigungsprinzip“ zu verstehen, da nur verallgemeinerungsfähige Maximen berechtigterweise als gültige moralische Normen anerkannt werden können.

Habermas führt dabei eine eigenwillige Unterscheidung zwischen den Adjektiven „ethisch“ und „moralisch“ ein. Die ethischen Fragen bleiben „in den thematisierten lebensgeschichtlichen Kontext eingebettet“ und erheben keinen Anspruch auf universelle Gültigkeit. Es sind vielmehr Fragen nach dem eigenen Lebensentwurf vor dem Hintergrund der jeweiligen kulturellen Gemeinschaft. Dagegen erfordern „moralisch-praktische Diskurse […] den Bruch mit allen Selbstverständlichkeiten der eingewöhnten konkreten Sittlichkeit wie auch die Distanzierung von jenen Lebenskontexten, mit denen die eigene Identität unauflöslich verbunden ist“:[78]

„Wir machen von der praktischen Vernunft einen moralischen Gebrauch, wenn wir fragen, was gleichermaßen gut ist für jeden; einen ethischen Gebrauch, wenn wir fragen, was jeweils gut ist für mich oder für uns.“[79]

Habermas erklärt, dass man aufgrund dieser begrifflichen Differenzierung genau genommen nicht von „Diskursethik“, sondern von einer „Diskurstheorie der Moral“ sprechen müsste. Er hält aber aufgrund des eingebürgerten Sprachgebrauchs an dem Begriff „Diskursethik“ fest.[80]

formalistisch

Das formalistische Moment bezieht sich auf eine Abgrenzung gegenüber materialen Wertethiken, die versuchen, bestimmte Werte als erstrebenswert auszuzeichnen, was zum Problem der Legitimation einer wertenden Rangfolge bestimmter Güter führt. Die Diskursethik umgeht dieses Problem, indem sie auch hier an Kants Bestimmung des Kategorischen Imperativs anknüpft. Im Zentrum der Diskursethik steht das formale Prinzip des Universalisierungsgrundsatzes „U“, gemäß dem eine strittige Norm unter den Teilnehmern eines praktischen Diskurses nur dann Zustimmung finden kann, „wenn die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können“.[81]

Sinn und Zweck dieses Prinzips ist die Möglichkeit einer unparteilichen Urteilsfindung im Fall moralischer Konflikte ohne direkte Bezugnahme auf inhaltliche Fragen. Die Diskursethik versucht damit ein Prinzip an die Hand zu geben, welches formal, das heißt unabhängig von inhaltlichen Vorgaben, die Möglichkeit eröffnet, darzustellen, welche Normen tatsächlich moralische Geltung beanspruchen können.

universalistisch

Habermas beschreibt schließlich die Diskursethik im Anschluss an Kant als eine universalistische Ethik, da die Geltung der von ihr über ein formales Prinzip ausgezeichneten Normen weder auf einen bestimmten Kulturkreis noch auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt ist:

„Universalistisch nennen wir schließlich eine Ethik, die behauptet, daß dieses (oder ein ähnliches) Moralprinzip nicht nur die Intuition einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Epoche ausdrückt, sondern allgemein gilt.“[82]

Dabei steht der Versuch im Mittelpunkt, eine Begründungskonzeption der Sollgeltung moralischer Normen zu entwickeln, die aufzeigen kann, „dass unser Moralprinzip nicht nur die Vorurteile des erwachsenen, weißen, männlichen, bürgerlich erzogenen Mitteleuropäers von heute widerspiegelt“, sondern aufgrund ihrer überzeugenden Kraft auch auf Kulturen bezogen werden kann, deren moralische Vorstellungen nicht durch die Geschichte der Aufklärung beeinflusst wurden. Habermas bezeichnet dies als den „schwierigsten Teil der Ethik“.[83]

Faktizität und Geltung

Nach dem Mauerfall von 1989 widmet sich Habermas verstärkt rechts- und staatsphilosophischen Themen. Im Jahre 1992 erscheint sein Werk Faktizität und Geltung, das nach seiner Theorie des kommunikativen Handelns als sein wichtigstes Werk gilt. Es stellt „die erste ausgearbeitete Rechtsphilosophie aus dem Umkreis der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule“ dar.[84] Habermas entwickelt hierin seine eigene Konzeption – wie schon in seinen früheren Schriften – über weite Strecken in Auseinandersetzung mit anderen Theorien.

Habermas Interesse gilt in erster Linie der Rolle des Rechts in den modernen Gesellschaften. Recht ist für ihn „das moderne gesatzte Recht, das mit dem Anspruch auf systematische Begründung sowie verbindliche Interpretation und Durchsetzung auftritt“.[85]

Das Recht hat die Funktion der „sozialen Integration“. Diese wird in der modernen Gesellschaft notwendig, da dort „Geltung und Faktizität, also die bindende Kraft von rational motivierten Überzeugungen und der auferlegte Zwang äußerer Sanktionen […] inkompatibel auseinandergetreten sind“.[86] Das Recht zeigt einen Ausweg zur Alternative zwischen Kommunikationsabbruch und strategischem Handeln auf. Es regelt die „strategischen Interaktionen, auf die sich die Aktoren selbst verständigen“.[87]

Rechtliche Regelungen stellen „einerseits faktische Beschränkungen“ dar, denen der strategisch Handelnde sich fügen muss; „andererseits müssen sie zugleich eine sozialintegrative Kraft entfalten, indem sie den Adressaten Verpflichtungen auferlegen, was […] nur auf der Grundlage intersubjektiv anerkannter normativer Geltungsansprüche möglich ist“.[88]

Habermas will das Recht in einer empirisch-normativen „Doppelperspektive“ betrachten, aus der „sich das Rechtssystem gleichzeitig von innen in seinem normativen Gehalt rekonstruktiv ernstnehmen, wie von außen als Bestandteil der sozialen Realität beschreiben läßt“:[89] „Ohne den Blick auf Recht als empirisches Handlungssystem bleiben die philosophischen Begriffe leer. Soweit sich aber die Rechtssoziologie auf einen objektivierenden Blick von außen versteift und gegenüber dem nur intern zugänglichen Sinn der symbolischen Dimension unempfindlich ist, gerät umgekehrt die soziologische Anschauung in Gefahr, blind zu bleiben“.[90]

Habermas untersucht das Verhältnis von Recht und Moral. Rechtliche und moralische Regeln differenzieren sich gleichzeitig aus traditionaler Sittlichkeit aus und „treten als zwei verschiedene, aber einander ergänzende Sorten von Handlungsnormen nebeneinander“.[91] Das Recht unterscheidet sich von der Moral dadurch, dass es sich nicht primär auf den freien Willen, sondern auf die individuelle Willkür richtet, auf das äußere Verhältnis von Personen bezieht und mit Zwangsbefugnissen ausgestattet ist.[92]

Habermas geht auf die platonische „Verdoppelung“ des Rechts als positives und natürliches Recht ein. Dem liege die Intuition zugrunde, dass das positive Recht das natürliche abbilden solle. Diese Intuition sei nicht in jeder Hinsicht falsch, „denn eine Rechtsordnung kann nur legitim sein, wenn sie moralischen Grundsätzen nicht widerspricht. Dem positiven Recht bleibt, über die Legitimitätskomponente der Rechtsgeltung, ein Bezug zur Moral eingeschrieben“.[93] Doch dürfe dieser Moralbezug nicht dazu verleiten, die Moral dem Recht in einer Normenhierarchie überzuordnen. Rechtsfragen und Moralfragen beziehen sich zwar auf dieselben Probleme, aber auf verschiedene Weise: „Trotz des gemeinsamen Bezugspunktes unterscheiden sich Recht und Moral prima facie dadurch, daß die posttraditionale Moral nur eine Form kulturellen Wissens darstellt, während das Recht zugleich auf institutioneller Ebene Verbindlichkeit gewinnt“.[94] „Deshalb dürfen wir Grundrechte, die in der positiven Gestalt von Verfassungsnormen auftreten, nicht als bloße Abbildungen moralischer Rechte verstehen, und die politische Autonomie nicht als bloßes Abbild der moralischen“.[95] Der Vernunftrechtstradition indes bleibt Habermas im Wesentlichen treu.[96]

Gesetze können für Habermas nur dann „legitime Geltung in Anspruch nehmen“, wenn sie in einem „ihrerseits rechtlich verfassten diskursiven Rechtsetzungsprozeß die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können“.[97]

Habermas formuliert im weiteren Verlauf vier Hauptprinzipien des Rechtsstaats:

  1. das „Prinzip der Volkssouveränität“[98]
  2. das „Prinzip der Gewährleistung eines umfassenden individuellen Rechtsschutzes“[99]
  3. das „Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“[100]
  4. das „Prinzip der Trennung von Staat und Gesellschaft“, welches eine politische Kultur fordere, „die von Klassenstrukturen entkoppelt ist“.[101]


Eugenik

In dem Sammelband Die Zukunft der menschlichen Natur nimmt Habermas zu Fragen der Eugenik Stellung. Eine grundsätzliche Problematik beim Eingriff in das menschliche Erbgut stellt für ihn die Tatsache dar, dass die Person, die eine Entscheidung über die „‚natürliche Ausstattung‘ einer anderen Person trifft“,[102] ihr gegenüber die Macht besitzt, unwiderruflich bestimmte Eigenschaften ohne den Konsens des Betroffenen zu bestimmen. Dieser Konsens kann im Fall einer „negativen Eugenik“, in der es um rein präventive Maßnahmen gegen zukünftige Krankheiten geht, vorausgesetzt werden.[103]

Die „positive Eugenik“ jedoch, bei der das Kind mit bestimmten nützlichen und wünschenswerten Eigenschaften ausgestattet werden soll, bedroht nach Habermas die Autonomie des Subjekts. Wenn der Leib in der pränatalen Phase des Individuums von den Eltern manipuliert wird, bedeutet dies, dass über ihn verfügt wird. Das macht aber ein „Selbstseinkönnen“ des Individuums für Habermas unmöglich.[104] Habermas unterscheidet in diesem Zusammenhang mit Bezug auf Hannah Arendt zwischen einem Natur- und einem Sozialisationsschicksal. Unser Selbstbewusstsein als menschliches Subjekt ist wesentlich daran geknüpft, dass wir auf ein „Naturschicksal“ aufsetzen können: denn „das Selbstbewusstsein der Person erfordert einen Bezugspunkt jenseits der Traditionsstränge und Interaktionszussammenhänge eines Bildungsprozesses, in dem sich die personale Identität lebensgeschichtlich formiert“.[105]

Religion und Christentum

Seit dem Ende der 1990er Jahre beschäftigt sich Habermas wieder mit religiösen Themen, v.a. mit dem Einfluss der jüdisch-christlichen Tradition auf das westliche Denken. Der „egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind“, ist für Habermas „unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik“.[106]

Habermas konzediert, dass sich im „nachmetaphysischen Denken“ moderner, säkularer Gesellschaften, „jeder generell verbindliche Begriff vom guten und exemplarischen Leben entzieht“. In den „heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen“ finden sich dagegen über Jahrtausende wach gehaltene „Intuitionen von Verfehlung und Erlösung“. Sie stellen „hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge“ zur Verfügung.[107]

Aufgabe einer „nachmetaphysischen“ Philosophie muss es sein, die kognitiven Gehalte der religiösen Überlieferung „im Schmelztiegel begründender Diskurse aus ihrer ursprünglich dogmatischen Verkapselung freizusetzen“, um so „eine inspirierende Kraft für die ganze Gesellschaft entfalten zu können“.[108]

Gehirnforschung und Willensfreiheit

Ein weiteres aktuelles Thema von Habermas stellt die moderne Gehirnforschung und das Problem der Willensfreiheit dar. Habermas wendet sich gegen die unter anderem von Wolf Singer und Gerhard Roth vertretene These, „mentale Vorgänge“ seien „allein aus beobachtbaren physiologischen Argumenten zu erklären“.[109]

Habermas’ Anliegen ist es, einerseits der „der intuitiv unbestreitbaren Evidenz eines in allen unseren Handlungen performativ mitlaufenden Freiheitsbewusstseins“ gerecht zu werden, andererseits aber auch „das Bedürfnis nach einem kohärenten Bild des Universums, das den Menschen als Naturwesen einschließt“ zu befriedigen.[110] Zu diesem Zweck unterscheidet er zwischen einer Beobachter- und Teilnehmerperspektive. Diese werden in verschiedenen „Sprachspielen“ vertreten, die nicht aufeinander reduziert werden können. Beide Perspektiven müssen gleichzeitig betrachten werden, um das Phänomen der Interaktion von Natur und Geist zu verstehen. Wir sind Beobachter und Kommunikationsteilnehmer in einer Person.

Rezeption und Wirkung

Habermas gilt als ein „Grenzgänger“[111] zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und lösten disziplinübergreifene Kontroversen in Philosophie, Wissenschaftstheorie, Soziologie und Politologie aus.

In Deutschland wurde Habermas, nachdem er bereits durch den Positivismusstreit und sein Werk Erkenntnis und Interesse allgemein bekannt geworden war, nach der Veröffentlichung der Theorie des kommunikativen Handelns zu einem der meistdiskutierten deutschen Philosophen der Gegenwart. Seit den 1980er Jahren erschien eine Reihe von Einführungen in sein Leben und Werk. Habermas publizierte zudem regelmäßig in zahlreichen deutschen Feuilletons wie dem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung oder der Zeit.

Kritik wurde an seiner Diskursethik geübt. So bezeichneten Albrecht Wellmer und Ernst Tugendhat die Idee einer idealen Sprechsituation als bloße Fiktion. Karl-Otto Apel und einige seiner Schüler kritisierten, dass Habermas die Möglichkeit einer Letztbegründung der Ethik ablehnt und auf dem historischen Charakter der Kommunikationsvoraussetzungen besteht.

Die wichtigsten Schüler Habermas’ in Deutschland sind Axel Honneth und Rainer Forst, die einige seiner Themen weiterentwickelt haben.

In den USA erfreut sich Habermas bereits seit Ende der 1970er Jahre einer besonderen Beliebtheit. Im Jahr 1978 erschien dort die erste bedeutende Abhandlung über Habermas von Thomas McCarthy (The Critical Theory of Jürgen Habermas). Seit Beginn der 1990er Jahre ist ein Anstieg an Veröffentlichungen zu beobachten, die sich mit unterschiedlichen Aspekten des Denkens von Habermas beschäftigen. Seine zahlreichen USA-Aufenthalte als Gastprofessor führten ihn mit den bedeutendsten Vertretern der amerikanischen Gegenwartsphilosophie zusammen, etwa Richard Rorty, Ronald Dworkin, Thomas Nagel, Donald Davidson, Noam Chomsky und Robert Brandom. Eine breite Aufmerksamkeit zog zudem seine Debatte mit John Rawls über dessen Konzept der Gesellschaftsbegründung (A Theory of Justice) auf sich. Mit Hilary Putnam entstand anlässlich des 70. Geburtstags von Habermas ein freundschaftlicher Dialog in mehreren wechselseitigen Aufsätzen über die Begründung von Werten und Normen im Rahmen einer pragmatischen Philosophie.[112]

Während in Italien Habermas bereits in den 1970 Jahren als Vertreter der Kritischen Theorie wahrgenommen wurde, verlagerte sich das Interesse seit Beginn der 1980er Jahre auf seine Diskurstheorie der Moral.

In Frankreich kam es in den 1980er und 1990er Jahren zu Kontroversen mit Vertretern der Postmoderne (Jean-François Lyotard und Jacques Derrida). Dieser Streit hat sich in jüngster Zeit wieder gelegt und das Interesse richtet sich gegenwärtig verstärkt auf Habermas als Rechts- und Staatsphilosoph.

Generell wird heute in Westeuropa v.a. das spätere Werk Jürgen Habermas’, das er nach seiner Theorie des kommunikativen Handelns publizierte, wahrgenommen.

Auch in Lateinamerika gilt in den letzten Jahren das Hauptinteresse an Jürgen Habermas seiner Rechts- und Staatstheorie. Seine auf der Diskurstheorie basierenden Konzepte wurden dort „zu einer Art drittem Weg zwischen den weit verbreiteten konservativen Positionen und den minderheitlichen, aber trotzdem stark präsenten Positionen linksrevolutionärer Bewegungen“.[113]

Auszeichnungen

1999 wurde Habermas von der Theodor-Heuss-Stiftung der Theodor-Heuss-Preis für sein lebenslanges, prägendes Engagement in der öffentlichen Diskussion um die Entwicklung von Demokratie und dem gesellschaftlichen Bewusstsein, verliehen. 2001 wurde Habermas mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, 2003 wurde ihm der Prinz-von-Asturien-Preis verliehen, und 2004 erhielt er für sein Lebenswerk den mit 364.000 Euro dotierten Kyoto-Preis der Inamori-Stiftung des japanischen Kyocera-Konzerns, eine Ehrung für Kultur und Wissenschaft mit internationaler Bedeutung. Habermas ist ferner als zweiter Preisträger mit dem Holberg-Preis der norwegischen Holberg-Stiftung ausgezeichnet worden; die Verleihung fand am 30. November 2005 in Bergen (Norwegen) statt; die mit 570.000 Euro dotierte Auszeichnung wurde ihm für seine „grundlegenden Theorien über Diskurs und kommunikative Aktion“, verliehen. Der Holberg-Gedenkpreis wird seit 2004 für herausragende Arbeiten im Bereich der Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften vergeben. 2006 wurde ihm der Bruno-Kreisky-Preis für sein „literarisches und publizistisches Gesamtwerk“ verliehen und im November des selben Jahres der Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen.


Übersicht

  • 1980 Theodor-W.-Adorno-Preis
  • 1985 Geschwister-Scholl-Preis für Die neue Unübersichtlichkeit
  • 1986 Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis
  • 1987 Sonning-Preis der Universität Kopenhagen
  • 1995 Karl-Jaspers-Preis
  • 1999 Hessischer Kulturpreis
  • 2001 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
  • 2004 Kyoto-Preis (zur Dankesrede siehe Weblinks)
  • 2006 Bruno-Kreisky-Preis (zur Dankesrede siehe Weblinks)
  • 2006 Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen – Ministerpräsident Jürgen Rüttgers begründete die Auszeichnung für Habermas am 7. November 2006 auf dem Petersberg bei Bonn damit, dass der Philosoph „ein großer Denker europäischer Kultur“ sei und „in der Tradition unseres Abendlandes und der Aufklärung“ stehe.

Bibliografie (Auswahl)

Eigene Publikationen

   * Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken (Diss.), Bonn 1954.
   * Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten (zus. mit L. v. Friedburg, Ch. Oehler und F. Weltz), Neuwied 1961.
   * Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (Habil.), Neuwied 1962 (Neuaufl.: Frankfurt a.M. 1990), ISBN 3-518-28491-6.
   * Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a.M. 1963.
   * Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1968. (Mit einem neuen Nachwort, 1994) ISBN 3-518-06731-1.
   * Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt a.M. 1968, ISBN 3-518-10287-7.
   * Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt a.M. 1969.
   * Zur Logik der Sozialwissenschaften, Tübingen 1970 (erw. 1982), ISBN 3-518-28117-8.
   * Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? (zus. mit Niklas Luhmann), Frankfurt a.M. 1971.
   * Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a.M. 1971 (erw. 1991).
   * Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt a.M. 1973.
   * Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973, ISBN 3-518-10623-6.
   * Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a.M. 1976, ISBN 3-518-27754-5.
   * Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung; Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft), Frankfurt a.M. 1981, ISBN 3-518-28775-3.
   * Kleine politische Schriften I-IV, Frankfurt a.M. 1981.
   * Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983, ISBN 3-518-28022-8.
   * Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a.M. 1985, ISBN 3-518-11321-6.
   * Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1984.
   * Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI, Frankfurt/a.M. 1987.
   * Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/a.M. 1988.
   * Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1988, ISBN 3-518-28349-9.
   * Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII, Frankfurt a.M. 1990.
   * Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze, Leipzig 1990.
   * Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991.
   * Texte und Kontexte, Frankfurt a.M. 1991.
   * Vergangenheit als Zukunft? Das alte Deutschland im neuen Europa? Ein Gespräch mit Michael Haller, Zürich 1991.
   * Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a.M. 1992, ISBN 3-518-28961-6.
   * Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII,Frankfurt a.M. 1995.
   * Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M. 1996, ISBN 3-518-29044-4.
   * Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt a.M. 1997, ISBN 3-518-22233-3.
   * Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a.M. 1998.
   * Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1999.
   * Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt a.M. 2001.
   * Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? , Frankfurt/a.M. 2001.
   * Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, Reclam Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-150-18164-X.
   * Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X, Frankfurt a.M., 2004, ISBN 3-518-12383-1.
   * Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005, ISBN 3-518-58447-2.
         o Die Religion der Moderne, Rezension von Hans Joas, Die Zeit, 13. Oktober 2005
         o Fast wie Kant, Rezension von Micha Brumlik, die tageszeitung, 19. Oktober 2005
         o Philosophie: Elf Thesen zu Habermas, Erwiderung von Paolo Flores d’Arcais, Die Zeit, 22. November 2007
   * Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI. Frankfurt am Main 2008, ISBN 3-518-12551-6, Rezension von Uwe Justus Wenzel in der NZZ vom 29. April 2008


Sekundärliteratur

Einführungen

   * R. Bambach: Prof. Dr. Jürgen Habermas. In: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Philosophie der Gegenwart. In Einzeldarstellungen. Kröner, Stuttgart 1991, ISBN 3-520-42301-4, S. 210–217.
   * Hauke Brunkhorst: Habermas, Reclam Leipzig, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-379-20309-8.
   * Andrew Edgar: The philosophy of Habermas. Acumen, Chesham 2005, ISBN 1-902683-94-3
   * Andrew Edgar: Habermas. The Key Concepts. Routledge, London/New York 2006, ISBN 0-415-30379-6
   * Helga Gripp: Jürgen Habermas, UTB 1984, ISBN 3-506-99376-3
   * Detlef Horster: Jürgen Habermas zur Einführung, 3. Aufl., Junius, Hamburg 2006, ISBN 3-88506-349-2.
   * Armin Nassehi: Jürgen Habermas. In: Peter Cornelius Mayer-Tasch & Bernd Mayerhofer: Porträtgalerie der politischen Denker. Stämpfli, Bern 2004, ISBN 3-7272-9642-9, S. 311-316.
   * Alessandro Pinzani: Jürgen Habermas. Beck. München 2007, ISBN 978-3-406-54764-5.
   * Walter Reese-Schäfer: Jürgen Habermas, Reihe Campus-Einführungen, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-593-36833-1.
   * Egbert Scheunemann: Habermas auf fünf Seiten., Hamburg 2007.
   * Rolf Wiggershaus: Jürgen Habermas. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004, ISBN 3-499-50644-0.

Weiterführendes

   * Franz Maciejewski (Hrsg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Beiträge zur Habermas-Luhmann-Diskussion. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973 (= Theorie-Diskussion Supplement 1), ISBN 3-518-06101-1.
   * Thomas McCarthy: Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-518-28382-0.
   * Matthias Restorff: Die politische Theorie von Jürgen Habermas. Tectum Verlag, Marburg 1997, ISBN 978-3-89608-768-3.
   * Egbert Scheunemann: Vom Denken der Natur. Natur und Gesellschaft bei Habermas. Lit Verlag, Münster/Hamburg/London 1999, ISBN 3-8258-3197-3.
   * Uwe Steinhoff: Kritik der kommunikativen Rationalität. Eine Darstellung und Kritik der kommunikationstheoretischen Philosophie von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel. Mentis, Paderborn 2006, ISBN 3-89785-473-2.

Kritik

   * Gerhard Bolte (Hrsg.): Unkritische Theorie. Gegen Habermas. zu Klampen, Lüneburg 1989, ISBN 3-924245-11-8.


Weblinks

Wikiquote

Wikiquote: Jürgen Habermas – Zitate
   * Literatur von und über Jürgen Habermas im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
   * Biografie von Jürgen Habermas auf der Website des LeMO (Deutsches Historisches Museum und Haus der Geschichte)
   * Habermas: Werk und Wirkung – Umfangreiche Bibliografie von Rene Görtzen (Primär- und Sekundärliteratur; PDF)
   * Habermas Forum mit Bibliografie und Linksammlung
   * Linksammlung mit englischen, teilweise aber auch deutschen Texten (zuletzt aktualisiert im Dezember 2004)
   * Jürgen Habermas im Perlentaucher
   * Eintrag in der Stanford Encyclopedia of Philosophy (Englisch, inkl. Literaturangaben); siehe auch den Abschnitt The Structural Transformation of Democracy: Habermas on Politics and Discursive Rationality im Eintrag Critical Theory
   * Jürgen Habermas wird siebzig: eine Ideenbiographie, Artikel von Axel Honneth in der ZEIT, Nr. 25/1999
   * Christopher F. Zurn: Jürgen Habermas, Artikel von Christopher F. Zurn, vorgesehen zur Veröffentlichung in: Alan D. Schrift (Hrsg.): History of Continental Thought. Bd. 6. Poststructuralism and Critical Theory. The Return of Master Thinkers. Acumen Press, voraussichtlich 2008
   * Sammlung von Dokumenten und Audio-Dateien von und über Habermas bei Radio Bremen (mit Linksammlung, enthält u. a. den Vortrag von 1998 Hermeneutische und analytische Philosophie – Zwei komplementäre Spielarten der linguistischen Wende, PDF)