Frankfurter Soziologie und Studentenrevolte

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Erkenntnisinteresse

Die späten 1960er Jahre in der westlichen Welt sind geprägt von tiefgreifenden Veränderungen, welche die Gesellschaftsstruktur derart nachhaltig beeinflussten, dass deren Folgen noch heute spürbar sind. Als eine wesentliche Komponente dieses soziokulturellen Veränderungsprozesses und zugleich als ein Charakteristikum der 60er Jahre wird die intensive ideologisch geprägte Auseinandersetzung zwischen den Generationen angesehen.

Ein vielleicht gewöhnlicher Generationenkonflikt spitzte sich vor dem Hintergrund der Kriegsgeschehnisse bald zu einem explizit politisch motivierten Konflikt zu. Während sich in den Vereinigten Staaten der Generationenkonflikt vor allem im Protest gegen den Vietnamkrieg und im Kampf für die Befreiung der Dritten Welt manifestierte, stand für die deutsche Studentenbewegung zunächst die Nazivergangenheit der Elterngeneration im Vordergrund. Ebenfalls auf der Agenda stand die Forderung nach einer gründlichen Reform der Hochschulen und - damit verbunden - das Recht auf Mitbestimmung der Studierenden und des Mittelbaus. Aus diesen spezifischen Forderungen der jungen Generation ergaben sich alsbald generellere politische Forderungen, welche mit denen der amerikanischen Jugend konvergierten. Den Ausgangspunkt des Konfliktes in der Bundesrepublik bildete zunächst jedoch der Befund einer augenscheinlich personellen Kontinuität von Verantwortlichen in Großkonzernen und an Universitäten vom Dritten Reich bis zum Nachkriegsdeutschland, welche man mit spektakulären Enthüllungskampagnen aufzudecken versuchte.

Als ideologischer Nährboden für die bundesrepublikanische Studentenbewegung gelten gemeinhin die Schriften aus dem Umfeld des undogmatischen Marxismus sowie aus dem Wirkungsbereich der Kritischen Theorie. Seit Ende der 50er Jahre nutzten antiautoritäre Intellektuelle diese Schriften als Legitimationsgrundlage für ihre politischen Forderungen.

Mit meiner Arbeit zum Thema „Frankfurter Soziologie und Studentenrevolte“ möchte ich der Frage nachgehen, in welchem Ausmaß die soziologische Theoriebildung der Frankfurter Schule und deren Gesellschaftstheorie zur Sprengkraft der Studentenbewegung beigetragen hat. Diese „praktische Umsetzung der Soziologie“ und die Einschätzungen zur 68er Bewegung der damaligen Akteure werde ich durch Rückgriffe auf Interviews mit Experten und Zeitzeugen, die wir im Rahmen unseres Lehrforschungsprojektes „Soziologie in Frankfurt“ geführt haben, erörtern. Mit Hilfe dieser retrospektiven Betrachtungen möchte ich zu rekonstruieren versuchen, wie sich die Studentenrevolte in den späten 1960er Jahren speziell an der Frankfurter Universität artikulierte.

Darüber hinaus möchte ich auf das Verhältnis von Studenten zu Sozialtheoretikern eingehen, wobei insbesondere die Frage im Zentrum stehen soll, ob die Schriften der Vertreter der Kritischen Theorie womöglich fehlinterpretiert wurden, oder ob die dort enthaltenen Ideen vielmehr mit falschen Mitteln verwirklicht wurden. Als Einführung in meine Problemstellung möchte ich knapp den historischen Kontext der damaligen Bundesrepublik skizzieren, um einen allgemeingesellschaftlichen Rahmen der Geschehnisse zu vermitteln. Nachfolgend beschreibe ich die Kritische Gesellschaftstheorie mit Ihren Hauptmerkmalen, um schließlich den Einfluss der Frankfurter Schule auf die damaligen Ereignisse in den 1960er Jahren an der Johann Wolfgang Goethe-Universität darzustellen.

Deutschland in den 1960er Jahren

In der deutschen Geschichte gibt es nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige Ereignisse, die im öffentlichen Diskurs als bis heute prägend für die deutsche Gesellschaft angesehen werden. Insbesondere gehören dazu die sechziger Jahre mit ihren weitreichenden Veränderungen. Sowohl intellektuell als auch alltagspraktisch haben diese Ereignisse – so die Einschätzungen vieler Historiker – einen gesamtgesellschaftlichen Wandel nach sich gezogen, der in seiner Radikalität nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Gewiss lässt sich diese Transformation zutreffender als ein schleichender, in den späten 1950er Jahren ansetzender, multikausaler Prozess beschreiben. Dennoch kann man wohl mit Recht in der so genannten 68er-Bewegung mit ihren Hochburgen in Frankfurt und Berlin einen markanten Kulminations- und Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik sehen. In der Nachkriegszeit gab es einerseits kulturelle Errungenschaften, die man zusammenfassend als das Aufkommen einer neuern Erlebniskultur umschreiben könnte. Nicht selten verhalf ein Einkommenszuwachs und gleichzeitig auch der erste eigene PKW, sowie die Durchsetzung des arbeitsfreien Samstages zahlreichen Familien zu einem luxuriöseren Lebensstil. Andererseits konstatierten konservative Zeitzeugen einen Verfall tradierter Werte. Während zuvor Gehorsam gegenüber den Eltern zu den selbstverständlichen Tugenden gehörte, sollte in den 60ern diesbezüglich ein radikaler Wandel stattfinden: Die Erforschung der vergangenen Dekaden und eine damit einhergehende Denunziation der Vätergeneration, an dem Zweiten Weltkrieg Mitschuld zu tragen, waren für die jungen Erwachsenen offensichtlich bedeutsam. Dass jedoch einige Elternteile damals selbst erst junge Heranwachsende und zugleich Opfer des Naziregimes waren, wurde ignoriert. Die Verschwiegenheit der Elterngeneration entfachte zudem die Neugier der Kinder und führte zu einem stärkeren Kramen in der Vergangenheit. Ulrich Oevermann erklärt das 68er- Phänomen wie folgt: „Diese Eltern haben ihre Kinder nach der Devise erzogen: ,Unsere Kinder sollen es mal besser haben.’ Diese 68er hatten es wirklich gut! Aber sie haben über ihre Eltern zu Gericht gesessen, damit sie sich von der Dankbarkeitsverpflichtung loslösen konnten. Die haben ihre Eltern regelrecht auf das Tribunal gestellt, und das sattsam.“ Die Scham der Eltern, über die nationalsozialistische Vergangenheit zu sprechen, wurde als Verdrängung der schrecklichen Geschehnisse interpretiert. Worüber niemand sprach, darüber musste selbst nachgeforscht werden. Oevermann erkennt die Verdrängungsthese jedoch nicht an und konstatiert, dass die Eltern tatsächlich nichts zu sagen hatten, sondern sich grundsätzlich schämten: „Die Leute haben nichts verdrängt. Wenn, dann haben sie abgespalten, aber nicht verdrängt; die haben sich geschämt - das ist etwas grundsätzlich anderes als verdrängen. Sie haben sich geschämt, diesem verbrecherischen System angehört zu haben.“

Iring Fetscher, seit 1963 Professor für politische Wissenschaft an der Goethe-Universität, verweist ferner auf den beinahe unveränderten Zustand, dass zahlreiche ehemalige Parteimitglieder des Dritten Reiches im Nachkriegsdeutschland nach wie vor ihren Beruf ausübten. „Nachdem die erste Nachkriegszeit vorbei war, entdeckten die jungen Leute: ‚Es hat sich ja gar nichts radikal geändert. Was habt ihr nun eigentlich gemacht?’ Und sie fragten dann die Eltern. […] Aber die Eltern wollten nicht darüber reden.“ Ehemalige Parteifunktionäre verschwanden zwar unmittelbar nach Kriegsende von der Bildfläche, aber nur um kurz darauf ihre alten Positionen erneut einzunehmen, so wie beispielsweise Hanns Martin Schleyer, ein führender Naziwirtschaftler, der im Dritten Reich tschechische Unternehmer enteignet hatte. Kurz nach seinem Revisionsverfahren 1948, bei dem er als Mitläufer eingestuft worden war, begann er seine Tätigkeit in der Industrie- und Handelskammer Baden-Baden. Diese Art von Kontinuität zwischen dem Dritten Reich und dem Nachkriegsdeutschland, haben die Linksradikalen als Skandal empfunden, so Iring Fetscher. Es hatte nämlich von den offiziellen, zugelassenen Parteien kaum jemand Anstoß daran genommen, dass bei den großen Firmen die Führungsgarnitur die gleiche war wie 1930, 1935 oder 1940. Allerdings sei es problematisch, daraus die These aufzustellen, die Bundesrepublik sei generell neonazistisch oder neofaschistisch gewesen.

Der tiefgreifende Wandel der damaligen Gesellschaft und die damit verbundenen familiären Veränderungen begünstigten die antiautoritäre Protestbewegung, da es zwar einerseits positive Umgestaltungen im Leben der Menschen gab, andererseits aber der Staat und zugleich die Besetzungsmächte durch den Wiederaufbau nach dem Krieg fortwährend einen obrigkeitsstaatlichen Einfluss auf die historische, soziale und kulturelle Dimension der Bundesrepublik ausübten. Dieser autoritären Einflussnahme wollten sich die Jugendlichen nicht mehr beugen. Ihr neues Selbstbewusstsein zogen sie unter anderem auch aus politischen Schriften. In einem Interview mit Wolfgang Kraushaar bestätigt Michael Naumann diesen gesellschaftlichen Hintergrund der Revolte: „68 war doch hauptsächlich eine kulturelle Bewegung und vielleicht zu zwanzig Prozent eine politische. Auf seinem Höhepunkt zählte der SDS maximal 2000 Mitglieder!“ Weiter erwähnt Naumann, dass 1968 nicht nur „für die fällige Distanzierung […] von der Generation der im Nationalsozialismus verstrickten Väter steht; es ging auch um die Offenlegung der von Exnazis bevölkerten Universitätslehrkörper.“

Aussagen wie diese verdeutlichen den gesellschaftlichen, aber gewiss auch den inneren Kampf der Individuen, die eigene Identität, das eigene Ich zu finden oder gar neu zu kreieren, der sich letzten Endes nur auf dem Rücken der Gesellschaft austragen ließ. Dies konnte nur durch eine Hinterfragung der Historie und eine Abgrenzung von der Elterngeneration erfolgen. Die Kritische Theorie war hierbei oft nur Mittel zum Zweck: Das Aufgreifen theoretischer Denkmodelle zur Umsetzung verschwommener, idealistischer Ziele half den jungen Menschen damals, ihren eigenen Weg zu gehen, sich von den Eltern zu distanzieren. In beispielsweise Horkheimer, Adorno, Habermas und Marcuse fanden sie Theoretiker, in Dutschke, Krahl und Cohn-Bendit umsetzungswillige Praktiker.

Kritische Gesellschaftstheorie

Entsprechend dem Wunsch, „an der Erziehung der jungen Generation in Deutschland mitzuwirken und, entgegen dem Zug der verwalteten Welt, wie Adorno sie taufte, den autonomen Gedanken in unseren Studenten zu entfalten, unbekümmert um das statistische Ausmaß seiner Möglichkeiten“, schafften Horkheimer und Adorno in den 1960er Jahren durch zahlreiche Publikationen und Nähe zu den Studenten, dieses Verlangen zu verwirklichen. Hierbei scheint insbesondere Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Kritische Theorie, vorzugsweise die Dialektik der Aufklärung aus dem Jahre 1947, sowie Adornos Negative Dialektik von 1966, als Nährstoff für die Gedanken und schließlich kämpferischen Okkupationen der Hochschüler gedient zu haben. Aber auch Herbert Marcuses Werke wie Triebstruktur und Gesellschaft (1955), Der eindimensionale Mensch (1964), der Essay zur Repressiven Toleranz (1965) und Schriften zu Autorität und Familie in Zusammenarbeit mit Fromm und Horkheimer gehören zu den wichtigsten Büchern der Kritischen Theorie. „Vor allem der im kalifornischen Exil lebende Herbert Marcuse, (...) wurde schon früh ein theoretischer Stichwortgeber für die antiautoritäre Linke." Ob die tatsächlich eingetroffenen Ereignisse in einem solchen Ausmaß von diesen Denkern beabsichtigt waren, lässt sich im Nachhinein nicht überprüfen, mit Sicherheit lässt sich die Forderung im oben angeführten Zitat jedoch als eine Art psychologischer und instrumenteller Versuch ausmachen. Günter Behrmann beschreibt im Gegenzug, wie Habermas Anfang der 60er zwar für ein demokratisch-oppositionelles staatsbürgerliches Engagement der Studenten plädierte, den Wortführern der SDS jedoch mit seinen Forderungen nicht weit genug ging. „Hierin unüberhörbar schon von alten und neuen Schriften Marcuses wie von Horkheimers politischen Aufsätzen der Emigrationszeit beeinflusst, glauben sie an die Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen weltrevolutionären Bewegung und an die eigene Avantgarderolle.“ Gelehrte wie Habermas benennen die Forderungen der Studenten öffentlich als utopisch, so dass diese schließlich mit „Verachtung auf die ,alten Herren’, die ihnen ,nicht konsequent genug und zu feige’ sind“ herabschauen. Erstmals wird die Bezeichnung Kritische Theorie in der 1937 veröffentlichten Schrift Traditionelle und Kritische Theorie Horkheimers verwendet, welche die Kontroverse zwischen den bestehenden und den möglichen Verhältnissen innerhalb einer Gesellschaft fokussierte, die man als Objekt eben dieser selbst kreiert. Insbesondere basierend auf der Essaysammlung Dialektik der Aufklärung, wurden die kritischen Denkmodelle, Auffassungen, Begrifflichkeiten und Ideen der Kritischen Theorie von der antiautoritären Protestbewegung aufgegriffen und für die eigene Propaganda verwendet. Die jungen Akademiker testeten, verifizierten oder verwarfen die aufgestellten Thesen dieser Theoretiker. Die erstaunliche Kurzlebigkeit der aufgegriffenen Theoreme sollte charakteristisch für die Beschäftigung mit ihnen und der uneigenen Theoriebildung der Studentenbewegung sein. Hans-Jürgen Krahl, ein Schüler Adornos, Studentenaktivist und einer der führenden theoretischen Köpfe der 68er-Bewegung, ging davon aus, „dass der Monopolkapitalismus die kapitalistische Zirkulationssphäre beseitigt hatte.“ Bezug nahm er mit dieser These auf Horkheimers Aufsatz Autoritärer Staat, den dieser 1940 verfasst hatte. Durch die Beseitigung der Zirkulationssphäre wandelte sich die Konstellation der gesellschaftlichen Bedingungen. Liberalkapitalistische Grundvoraussetzungen seien durch die deliberalen Austauschbedingungen ungleicher Tauschpartner in der Marktwirtschaft nicht mehr gegeben und eigneten sich nicht als Legitimationsgrundlage des modernen Rechtsstaates. Nach dieser These behalten die Regierenden durch ihre Staatsintervention die Oberhand und verhindern durch die Steuerung des Kapitals Revolutionen. Gleichwohl ist jederzeit eine Diktatur möglich. Diese Aufhebung des liberalen Kapitalismus, wie Marx ihn propagierte, sei nicht mehr gegeben. Krahl versuchte durch diese verstärkt kapitalismuskritische Weiterführung von Horkheimers Gedanken eine Umwälzung des bestehenden Monopolkapitalismus und auf der Basis dieses theoretischen Grundgerüstes eine mögliche Revolution zu initiieren. Demnach erfüllt das revolutionäre Handeln alle drei Eigenschaften der Kritischen Theorie: „sozialpsychologisch ist es antiautoritär und nonkonformistisch, politisch ist es die systematisch begründete, voluntaristische, bestimmte Negation bestehender Herrschaftsverhältnisse, philosophisch ist es erkenntniskritisch-praktisch an der Konstitution einer neuen Gegenstands- und Erfahrungswelt orientiert.“ An der Frankfurter Universität

Gleich welche Eingebung hinter den theoretischen Denkmodellen Adornos und Horkheimers, oder auch Marcuses und Fromms stehen mochten, de facto zeigten sie eine enorme Auswirkung in den 1960er Jahren, als die Studentenbewegung revolutionär und aggressiv Position gegenüber Autoritäten bezog. Aus dem Fundament dieser Denkmodelle erhob sich eine Bewegung reaktionärer Macher, die sich oftmals durch eine charismatische Selbstdarstellung heroisch ins Rampenlicht rückten. Dieter Mans, zur damaligen Zeit Student an der Frankfurter Universität, schätzt, dass die willensstark reaktionär aufkommende Bewegung erst Ende 1967 durchbrach und Flugblätter, Zeitungsartikel, Teach-Ins und erste Demonstrationen verstärkt über die Denkmodelle aufklärten und informierten. Werke wie „Student und Politik“ gaben laut Mans den jungen Akademikern Anstöße zur Meinungsbildung. Er beschreibt in dem von uns durchgeführtem Interview sehr schön, dass es zu den bekannten Texten zwar auch akademische Auseinandersetzungen gab, moralische Bewertungen allerdings außerhalb der Vorlesungsräume stattfanden. Diese Aussage zeigt, dass es bei der Protestbewegung weniger um realistische und wahrheitsliebende Fakten ging, als vielmehr um die aufständischen Proteste an sich, eine Revolte gegen die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse. Im Institut für Sozialforschung an der Goethe-Universität wurde zu der damaligen Zeit unter Horkheimer, Adorno und von Friedeburg eine kritische Soziologie betrieben, die es leicht ermöglichte, in die Praxis umgesetzt zu werden. Dies verleugneten die Autoren der Kritischen Theorie auch nicht, jedoch nahmen sie Abstand zu den Pfaden der praktischen Umsetzung. Auch Fetscher schätzt die antiautoritäre Protestbewegung als eigenständiges Gebilde ein, welche ihre Forderungen zwar aus den gesellschaftskritischen Texten, primär aus jenen der Frankfurter Soziologen, ableitete, jedoch kaum Unterstützung von Seiten der Theoretiker erhielt. „Sie haben benutzt, was sie kriegen konnten. Sie haben zum Beispiel die von den Frankfurtern in der Emigration geschriebenen Arbeiten in Raubdrucken wieder veröffentlicht, bevor sie offiziell verfügbar waren. Und gar kein Zweifel, war Horkheimer, der das Institut für Sozialforschung übernahm, war Marxist, wenn auch kein Sowjetmarxist. […] Aber die Protestler wurden ja nicht direkt akzeptiert, nicht von Adorno und erst recht nicht von Horkheimer, am ehesten vielleicht von Marcuse.“ Günter Behrmann geht ebenfalls auf die These ein, dass Adorno, Horkheimer, und Habermas als die Väter der Studentenbewegung benannt werden. Es „scheint sich bald herumgesprochen zu haben, dass der Studentenprotest einiges mit ,der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule’ zu tun habe und dass Adorno, Horkheimer und Habermas die geistigen Väter der Studentenbewegung seien.“ Behrmann räumt hier ein, dass diese Ansicht zwar nicht gänzlich falsch sei, aber auch Hochschullehrer, wie beispielsweise Abendroth, Hoffmann und Maus, in Marburg einflussreiche Gruppen formierten und allgemein gesagt werden kann, dass man in den theoretisch bedeutsamen Veröffentlichungen und der neuen Linken vor der Mitte der 1960er Jahre vergeblich nach einer kritischen Theorie als Referenzrahmen theoretischer Diskussionen gesucht hat. „Selbst als dann die von Marcuse gelegten Spuren aufgenommen und weiterverfolgt wurden, zeichnete sich weder in der Frankfurter Neuen Kritik noch im Berliner Argument eine allgemeine Hinwendung zur kritischen Theorie Frankfurter Provenienz ab.“ Selbsterklärend ist für Behrmann, dass sich durch die Verbindung von Studentenbewegung mit ihren vermeintlichen Theoretikern, den Lesern der gehobenen Presse eine Einsicht in die Denkweise der Studenten bot, ohne benennen zu müssen, worin diese detailliert lag.

Marcuse hatte die Vorstellung, dass die Arbeiter in den Vereinigten Staaten vollständig in die Konsumgesellschaft integriert seien, und dass Deutschland als neuer Träger der gesellschaftlichen Veränderung die Ausgebeuteten der Dritten Welt und die Studenten in den Metropolen bräuchte. „Natürlich gab es in Amerika eine Studentenbewegung, die auch noch […] verbunden war mit der afroamerikanischen Befreiungsbewegung. […] Daher war es für Marcuse, glaube ich leichter, sich das so vorzustellen, aber er hat auch hier den Studenten zugeredet und sich gefreut, dass was los ist. Und das hat Adorno ganz abgelehnt, entschieden abgelehnt. Ich habe das damals nicht so genau gewusst, dass sie so gegeneinander stehen. Marcuse war wirklich der Einzige, den die Studenten zu einem gewissen Grad für sich in Anspruch nehmen konnten.“

Mit Sicherheit hing die Aktualisierung der Kritischen Theorie mit der damaligen Betrachtung der sozialen Realität zusammen, so wie die Frankfurter sie damals sahen. Die These, „dass die freie Entfaltung der Individuen von der vernünftigen Verfassung der Gesellschaft abhängt“, schrieb sich die Frankfurter Schule auf die Fahnen und baute ideologisch auf diesem Fundament ihre Gedankengänge auf. Mit der Vorannahme, dass es im Einflussbereich der Menschen liegt, sich ihre Gesellschaft selbst zu gestalten, weil diese sie keine natürliche Gegebenheit ist, „drängt sich die Frage nach der Menschenwürdigkeit der Gesellschaft nahezu auf“ , so der niederländische Soziologe Hoefnagels. Die Frankfurter sehen das Ziel einer Gesellschaft in der Anlage einer vernünftigen Gesellschaftsordnung und in der Entwicklung optimaler Möglichkeiten individueller Entfaltung. Die Frankfurter Schule verlor nie aus den Augen, dass „die Gesellschaft Resultat menschlicher Tätigkeit ist, die, auch wenn sie deren Ordnung nicht bewusst erzeugt, zumindest für sie verantwortlich ist.“ Nichts desto trotz stützte sich die theoretische Vorbereitung der Studentenrevolte im Wesentlichen auf die Negative Dialektik. Das oberste Ziel bestand darin, sich von allen möglichen autoritären Abhängigkeiten zu lösen. Ob dies nun die Beziehung zwischen Staat und Individuum, Eltern und Kind oder Professor und Student war. Jegliche Unterwerfung und Ungleichheit sollte bekämpft werden. Abhängigkeitsverhältnisse, die zuvor als positiv, oder zumindest als normal empfunden wurden, da sie sich aus der Entwicklung der modernen Menschheit ergaben, sollten ihre Gültigkeit verlieren und untergraben werden. Entsprechend mussten neue Verhältnisse formiert und alte Gesellschaftsverhältnisse ausgelöscht werden.

Dass jedoch nicht alle Studenten und Jugendlichen die Gesellschaft aus der Sicht der Kritischen Theorie betrachteten, sieht man an den Mitgliederzahlen der SDS, die zu ihrer Blütezeit gerade mal 2000 Studenten zählte. Retrospektiv resümiert Herbert Schnädelbach in einem Interview die Frankfurter Zeit in Bezug auf die Studentenrevolte wie folgt: „Ich konnte überhaupt nicht verstehen, warum Adorno immer dazu neigte, diese junge Bundesrepublik, der es doch nun leidlich gut ging und wir eigentlich auch ein ganz angenehmes Leben hatten, ohne materielle Sorgen, immer noch mit dem Grauen des Faschismus und mit Auschwitz in Zusammenhang zu bringen. Ich habe es nie ganz verstanden, warum Adorno so tat, als hätte sich gegenüber den Schrecken des Nationalsozialismus gar nichts Wesentliches verändert. Jedenfalls haben wir das als junge Studenten bei ihm nicht wahrgenommen. Was mich immer abgestoßen hat, war diese ganze Gewaltrhetorik der Studenten und Jugendbewegung. Da wurden immer Strategien entwickelt und da musste etwas zerschlagen werden; diese revolutionäre Gewaltrhetorik war mir einfach zuwider. Weil ich einfach als Kind schon erlebt hatte, was es bedeutet, wenn Gewalt gegen Personen, gegen lebende Menschen ausgeübt wird. Gerade für meine Generation, die den Krieg noch bewusst als Kind erlebt hat, war doch im Grunde die Bundesrepublik so etwas wie ein Refugium, wie ein hoffnungsvoller Neuanfang. Paradies will ich nicht gerade sagen, aber es war doch im Rückblick auf den erlebten Schrecken eine hoffnungsvolle Zeit und da war immer diese negative Rhetorik, die nur darauf beruhte, dass keine Versöhnung möglich sei und dass man in einer antagonistischen Gesellschaft lebte. Das war für mich emotional unzugänglich.“

Festzuhalten ist auch, dass es nicht nur unterschiedliche Perspektiven innerhalb der Studentenschaft gab, sondern auch in den Fakultäten. Jürgen Habermas berichtet, dass die philosophische Fakultät bereits in den 60er Jahren gespalten war in eine konservative Mehrheit um Alfred Rammelmeyer und eine relativ kleine linke und linksliberale Gruppe um Adorno, Mitscherlich, Friedeburg und ihn. Ein unverkennbares Ressentiment gegen Horkheimer und Adorno bestand laut Habermas bereits, als er 1964 in die Fakultät eintrat. Diese Spaltung hatte weniger mit der Ausrichtung des Fachs zu tun, als vielmehr mit den persönlichen Beziehungen Adornos und Horkheimers zu den älteren Kollegen, die ja in vielen Fällen bis vor 1933 zurückreichten. Außerdem hatte Horkheimer einen „kurzen Draht“ zum Ministerium, den er offenbar auch ausgiebig nutzte. Andererseits waren die persönlichen und akademischen Querelen im Rahmen der allgemeinen Frontstellungen und intellektuellen Konflikte der jungen Bundesrepublik auch politisch intoniert, da sich in den 50er Jahren die Remigranten wie in einem fremden Land fühlten. Hinzu kam das Ressentiment gegen den „intellektuellen" Adorno, dessen Persönlichkeit so offensichtlich den akademischen Durchschnitt überragte. Die Studentenproteste hatten die in der Fakultät ohnehin bestehenden Gräben nur noch mehr vertieft.

Wilhelm Schumm, damals Wissenschaftlicher Assistent an der Frankfurter Universität, bestätigt die These, dass man zwischen mehreren Abstufungen der Perspektiven zwischen Protestsympathisant und Gegner unterscheiden muss und fachspezifische Verallgemeinerungen unzutreffend sind, was angesichts der verstärkten Einbindung der Sozialwissenschaften ohnehin schwer fällt. „Es gab auch andere Kollegen, wie etwa Gronemeier, Mathematiker in Berlin, der sehr große Sympathien für die Studentenbewegung hatte. Aber die Sympathisanten waren bei den anderen Fächern in der Minderheit. Während es bei den Soziologen zwar nicht die Mehrheit, aber doch ein relativ großer Anteil von Kollegen auf der Seite der Reformsympathisanten waren. Das war die generelle Situation. Das galt für Berlin und das galt auch für Frankfurt.

Herbert Schnädelbach macht in unserem Interview auf die Diskrepanz im Adorno-Bild aufmerksam, wie nämlich er selbst es wahrgenommen hatte, und wie es ihm in Gesprächen mit damaligen Kollegen vermittelt wurde. „Links der Zeppelinallee“ wurden die großen Projekte des Instituts für Sozialforschung mit entsprechenden Studien durchgeführt. Angesichts der personellen Ausstattung herrschten große klimatische Unterschiede zwischen dem Institut für Sozialforschung und dem Philosophischen Seminar. „Wir hatten eigentlich gar keine Ahnung, was im Institut für Sozialforschung betrieben wurde. Man ging ins Soziologische Proseminar, das Adorno hielt und da war der Unterschied doch sehr deutlich. Das Bild, dass es eigentlich zwei Adornos gab, hat sich mir dann im Nachhinein so dargestellt.“ In einem Gespräch mit Ludwig von Friedeburg ergab sich für Schnädelbach ein abweichendes Bild von Adorno, da dieser im IfS reformistisch war und sich um die Lehrerausbildung und Soziologenausbildung gekümmert hatte. Zudem habe Adorno Aufsätze zur Vergangenheitsbewältigung geschrieben. Aufgrund dieser Bemerkung von von Friedeburg kam Schnädelbach zu dem Schluss, „dass es offenbar zwei Adornos gegeben hat. Also einmal rechts der Zeppelinallee und einmal links der Zeppelinallee. Also einmal im philosophischen Seminar, wo das unendliche Grauen und die absolute Negativität unter Sprache ist, das als das Unwahre zelebriert wurde und auf der anderen Seite der Zeppelinallee, nämlich im Institut für Sozialforschung, da wurde linke reformistische Politik betrieben.“

Auch Iring Fetscher vermittelt in unserem Interview interessante Einsichten aus seiner Frankfurter Zeit, als er 1963 die kommissarische Lehrstuhlvertretung des Ordinariats für Politische Wissenschaft annahm. Auf die Frage, wie er die Frankfurter Universität zur damaligen Zeit wahrgenommen habe, antwortet Fetscher, dass er als Beauftragter für die studentische Organisation einiges mitbekommen habe. „Einmal hatte ich einen Konflikt mit der Studentenvertretung. Die wollten einen Vortrag veranstalten: 'Enteignet Springer!', worauf ich entgegnete, dass dieser Vortrag gegen das Prinzip der Demokratie stehe und der Titel verallgemeinert werden müsse. Nachdem ich den Studierenden die finanzielle Unterstützung für den Vortrag entzog, war der Konflikt erledigt.“ Grundsätzlich wurde der Konflikt mit Studenten von Fetscher nicht als bedrohend empfunden, da den Aufständischen eigentlich der Rückhalt in der Gesellschaft fehlte. Als Beispiel nennt er den Versuch von Studenten, den DGB oder die IG Metall für sich zu gewinnen, dabei aber rabiat abgewiesen wurden. Seines Erachtens war es zur damaligen Zeit vollkommen illusorisch, anzunehmen, man könne eine Revolution anzetteln. Auch die zunehmende Flucht in die Gewalt hätte nur noch zur Isolation in der Gesellschaft geführt. Lediglich ein paar linke Professoren hätten mit Studierenden über ihre Forderungen diskutiert. Aber auch hier hatten sie sich durch ihre Radikalität um die Unterstützung der Hochschullehrer gebracht.


Resumée

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Studentenbewegung mit ihrem Höhepunkt im Frühjahr 1968 durch ihren unerwarteten Ausbruch, ihre Vehemenz, der internationalen Gleichzeitigkeit der Protestbewegungen, sowie dem Ineinandergreifen allgemeingesellschaftlicher, auch politischer Forderungen eine "mythische Überhöhung" erfahren hat. Zu beachten ist hierbei, dass sie dieses Ausmaß lediglich durch die Unterstützung der Massenmedien erreichen konnte, da mit Hilfe dieser die Brennpunkte fokussiert und selektiert dargestellt wurden. Zudem lässt sich konstatieren, dass „für die meisten Beteiligten der Protest mehr ein Lebensgefühl war als das Ergebnis theoretischer Analyse" . Zwar nutzte die rebellische Protestbewegung vornehmlich Theoreme der Frankfurter Schule als Fundament ihrer antiautoritären Propaganda, doch war ihre theoretische Grundlage eher „ein Baum mit vielen Wurzeln und noch mehr Ästen und Zweigen. [...] Die Vorstellung, es habe ein theoretisch kohärentes Selbstverständnis der Bewegungsformen und -ziele gegeben, ist […] irreführend." Aufgrund der Radikalisierung und des ideologischen Missbrauchs zahlreicher Frankfurter Theoreme, lässt sich die Beziehung zwischen Hochschullehrern und den studentischen Aktivisten, in der rebellischen Phase um 1968, jedenfalls nicht gerade als ein wohlgesonnenes Verhältnis beschreiben. Mit Hilfe von Interviewauszügen wurde deutlich, dass die Studentenbewegung in Frankfurt nicht der Vehemenz der Revolten in Berlin oder im internationalen Kontext entsprach, sondern vergleichsweise friedlich verlief. Verschiedene Einblicke durch die Interviewpartner zeigen unterschiedlichste Facetten der Geschichte und der Menschen, die diese schrieben. So plötzlich und massiv die antiautoritäre Linke in den 1960er Jahren für Aufsehen sorgte, so schnell und kurzweilig waren ihre gewünschten Auswirkungen. Sämtliche gesamtgesellschaftlichen Etappenziele, wie beispielsweise die Umstrukturierung des Axel-Springer-Verlags, die Verhinderung der Verabschiedung eines erweiterten Entwurfes der Notstandsgesetze im Parlament oder eine Verabschiedung der Hochschulreform im Sinne der Studenten konnten die jungen Erwachsenen nicht erreichen, so dass die Studentenbewegung alsbald zersplitterte. Ergänzend beschreibt Oevermann, dass die elitäre 68er-Bewegung zur Technokratisierung der Universität erheblich beigetragen habe und, dass die 68er in seinen Augen „an der Universität eine ganz erhebliche Zerstörungsarbeit“ geleistet haben, die bereits damals zu vernehmen war. Indes bemerkt Jürgen Habermas, dass trotz des jähen Zerfalls der Protestbewegungen, die Botschaften der aktivistischen Studierenden eine nachhaltige „Fundamentalliberalisierung" der westdeutschen Bevölkerung bewirkten, so dass sich die gesellschaftlich-kulturelle Rückständigkeit der bereits fortschrittlich etablierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernität anschließen konnte.

Quellenverzeichnis

• Behrmann, Günter C.: Kulturrevolution. Zwei Monate im Sommer 1967. In: Clemens Albrecht et al.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik: Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt/ New York, Campus Verlag 1999, Kapitel 11

• Fetscher, Iring: Gespräch am 21. Januar 2008, geführt von Patrick Taube, Julia Steinecker und Fehmi Akalin.

• Habermas, Jürgen: Briefwechsel geführt von Felicia Herrschaft, Antworten vom 21. Februar 2008

• Habermas, Jürgen: Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969

• Hoefnagels, Harry: Frankfurter Soziologie, Essen: Verlag der Scharioth'schen Buchhandlung, 1972

• Kraushaar, Wolfgang: Denkmodelle der 68er aus Politik und Zeitgeschichte (B 22- 23/2001): Bundeszentrale für politische Bildung; Quelle: http://www.bpb.de/themen/4Q83FF.html

• Kraushaar, Wolfgang: Frankfurter Schule und Studentenbewegung Band 2, Hamburg: Rogner & Bernhard GmbH & Co. Verlags KG, 1998

• Kraushaar, Wolfgang: Frankfurter Schule und Studentenbewegung Band 3, Hamburg: Rogner&Bernhard GmbH & Co. Verlags KG, 1998

• Mans, Dieter: Gespräch am 10. Januar 2008, geführt von Alexandra Leo, Victoria Wendt und Thorsten Benkel.

• Oevermann, Ulrich: Gespräch am 06. Februar 2008, geführt von Radostina Ilieva, Kai Müller, Julia Steinecker und Claudius Härpfer.

• Schnädelbach, Herbert: Gespräch am 11. März 2008, geführt von Felicia Herrschaft • Schumm, Wilhelm: Gespräch am 23. November 2007, geführt von Eva Frankenthal, Alexandra Leo, Alexander Thierfeld und Thorsten Benkel.

• Schildt, Axel: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005: aus der bpb-Reihe: Zeitbilder

• Schildt, Axel: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005: aus der bpb-Reihe: Zeitbilder; Quelle: http://www.bpb.de/themen/P9B42Q.html

• DIE ZEIT Geschichte, Nr. 2/2007: Michael Naumann und Wolfgang Kraushaar im Gespräch über 1968, die Folgen und das Selbstverständnis der Republik: moderiert von Gunter Hofmann und Jörg Lau; Quelle: http://www.zeit.de/zeit-geschichte/naumann


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