Karl Otto Hondrich (01.09.1937 - 16.01.2007)

Aus SozFra
Version vom 5. März 2008, 09:01 Uhr von CHaerpfer (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: [KZfSS, 59, 2007: 367-369] Karl Otto Hondrich gab der Soziologie ein Gesicht. Sein ironischer Verstand, seine intellektuelle Eleganz und seine offene Haltung verliehen...)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

[KZfSS, 59, 2007: 367-369]

Karl Otto Hondrich gab der Soziologie ein Gesicht. Sein ironischer Verstand, seine intellektuelle Eleganz und seine offene Haltung verliehen seiner Weise Soziologie zu betreiben einen unverwechselbaren Charakter. Geboren wurde er am 1. September 1937 in Andernach im Rheinland. Er verstarb am 16. Januar 2007 in Frankfurt am Main. Als soziologischer Generalist beschäftigte er sich in seinen Werken mit den Themen Arbeit und Gesellschaft, politische Partizipation, Konfliktsoziologie, Bedürfnisforschung, soziologische Theorien und international vergleichender sozialer Wandel.

In Frankfurt, Berlin, Paris und Köln studierte er Nationalökonomie, Soziologie und Politikwissenschaft. Er promovierte 1962 mit der Arbeit „Die Ideologien von Interessenverbänden“ bei René König, die Arbeit trug den Untertitel „Eine strukturell-funktionale Analyse öffentlicher Äußerungen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und des Deutschen Gewerkschaftsbundes“. Vermutlich würde mancher die Arbeit heute modisch eine Diskursanalyse nennen, allerdings zeichnet sich bereits diese frühe Arbeit durch eine präzise formulierte theoretische Problemstellung, geleitet am Ideologiebegriff, aus. Das Verhältnis von Arbeit und Gesellschaft beschäftigte ihn auch nach seiner Promotion ein Leben lang, sei es international vergleichend (Mitbestimmung in Europa, 1970), als Problem der „Leistungsgesellschaft“ (Demokratisierung und Leistungsgesellschaft, 1972) oder im Vergleich zwischen Ost und West nach der deutschen Vereinigung (Arbeitgeber West, Arbeitnehmer Ost: Vereinigung im Konflikt, mit A. Joost u.a., 1993).

Geprägt haben ihn schon am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn Auslandsaufenthalte, sicherlich Berkeley (1962-63), aber vor allen Dingen zwei Jahre als Dozent an der Wirtschaftsfakultät der Universität Kabul in Afghanistan (1963-65). Die in seinen frühen Arbeiten aufscheinende, durch Georg Simmel inspirierte, Konfliktsoziologie verallgemeinerte sich zu einer Soziologie sozialen Wandels. 1969 habilitierte er sich an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln mit der Arbeit „Wirtschaftliche Entwicklung, soziale Konflikte und politische Freiheiten“. Diese souveräne Analyse des Verhältnisses politischer Freiheiten und gesellschaftlicher Strukturen stellt eine Begrifflichkeit zur Beschreibung sozialer Konflikte in so unterschiedlichen Gesellschaften wie Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland zu Verfügung. Die Stabilität von Gesellschaften, ja vielleicht sogar ihre Harmonie, ruht für Hondrich auf der unendlichen Anzahl verschiedener Konflikte, die von Tag zu Tag ausgetragen werden. Der Frage nach katastrophalen Konflikten widmete er sich erst später in seinem Leben, aber dann umso nachdrücklicher: „Lehrmeister Krieg“ (1992) und „Wieder Krieg“ (2002) lösten Fachkontroversen aus. Gerade in diesen zwei letztgenannten Büchern irritierte viele der Modus der Analyse: Die Durkheimsche Frage nach der gesellschaftlichen Moral, wie sie in kollektiven Gefühlsregungen ihren Ausdruck findet, war schwer verdaulich für ein durchtechnisiertes Verständnis der Sozialwissenschaften.

Bereits 1972 bekam Karl Otto Hondrich eine Professur für soziale Konflikte und sozialen Wandel am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Zu Beginn war diese Professur noch in der wissenschaftlichen Betriebseinheit Produktion und Sozialstruktur, Schwerpunkt sozialstruktureller und kultureller Wandel, angesiedelt, die dann am Ende seiner Berufslaufbahn zum Institut für Politik- und Gesellschaftsanalyse mutierte: andere Zeiten, andere Namen. Mit dem Antritt seiner Professur erweiterte Hondrich seine Themengebiete. 1974 gründete er die „Arbeitsgruppe Soziale Infrastruktur“, die seitdem einen kontinuierlichen Rahmen für zahlreiche Projekte bot. Viele insbesondere empirisch orientierte Arbeiten wurden hier von ihm inspiriert. Seine damalige Sicht der Sozialwissenschaft entwickelte er in der Einführung in die Sozialwissenschaft „Menschliche Bedürfnisse und soziale Steuerung“ (1975). Das Verhältnis zwischen sozialen Problemen und sozialem Wandel bildete den Rahmen, in dem er den Gegenstand der Sozialwissenschaft entfaltete. Der Begriff der Bedürfnisse fokussierte weiter seine empirische Forschung (Bedürfnisse im Wandel, hg. mit R. Vollmer, 1983). Ebenso wie politische Partizipation in seinen frühen Werken, waren Bedürfnisse eine Möglichkeit den einzelnen Menschen in der Gesellschaft mit in den Blick zu nehmen. Bedürfnisse waren gleichsam der Konfliktzustand im personalen System. Neben den physiologischen Bedürfnissen, waren es die Bedürfnisse nach Sicherheit, Zugehörigkeit, Achtung und Selbstverwirklichung, die Ausdruck und Möglichkeit der Sozialität des Menschen sind.

Von seinem Drang nach soziologischer Erkenntnis nicht zu trennen war sein Interesse an soziologischer Theorie. Seine „Theorie der Herrschaft“ (1973) ist vorbildlich in der transparenten Darlegung seiner Theoriearchitektur und liefert einen zentralen Beitrag zur Erklärung von Herrschaftskrisen, im asynchronen Wandel von Wirtschaft, Gesellschaft und Herrschaftsstruktur. 1978 war Hondrich Mitglied des Gründungsvorstandes der Sektion „Soziologische Theorien“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; wichtig ist noch heute der Band „Theorievergleich in den Sozialwissenschaften“ (hg. zusammen mit J. Matthes), der im gleichen Jahr erschien und dessen Mitherausgeber er war. Gerade hier wird Hondrichs Ansatz als pragmatischer Generalist besonders deutlich. In einem furiosen Plädoyer, dass die Soziologie eigentlich eine einheitliche Theorie habe, diese jedoch aufgrund der Unvollkommenheit der einzelnen - um Reputationsgewinn bemühten - Theoretiker noch nicht bemerkt habe, zeigt die Integrationskraft seines Denkens. Ebenso pragmatisch war sein Umgang mit Theorie, wenn er sie zur Steuerung empirischer Arbeiten benötigte, noch heute ein nur selten übertroffenes Paradebeispiel ist sicher das erste Kapitel in „Soziale Differenzierung“ (1982).

Soziale Konflikte und sozialer Wandel leiteten auch sein Interesse am internationalen Vergleich. Ein wichtiges Buch für die empirische Migrationsforschung ist das zusammen mit H.-J. Hoffmann-Nowotny erarbeitete „Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz“ (1981). Die Chance, seine persönliche Neigung zu Reisen und gutem Essen mit intellektueller Anregung zu verbinden, bot ihm die Mitgliedschaft in der 1986/87 gegründeten internationalen Forschungsgruppe „Comparative Charting of Social Change“. In der internationalen Zusammenarbeit entwickelte er mit seinen Kollegen und Kolleginnen nicht nur ein komplexes Instrument zur Beschreibung von sozialem Wandel in industrialisierten Gesellschaften (z.B. „Recent Social Trends in West Germany“, hg. mit W. Glatzer u.a., 1992), sondern es reifte auch seine Form gesamtgesellschaftlicher Analyse (in: Leviathan Transformed, Seven National States in the New Century, hg. von T. Caplow, 2003).

Der zunehmend genuin soziologische Blick auf die Gesellschaft als ganze drückt sich in zahlreichen neueren Veröffentlichungen aus. Dabei bleibt das spannungsreiche Verhältnis zwischen Individualisierung und Kollektivierung im Fokus seines Denkens. In „Solidarität in der modernen Gesellschaft“ (mit C. Koch-Arzberger, 1992) bestimmt er Solidarität als einen zentralen und an Bedeutung zunehmenden Steuerungsmechanismus. Ebenso wie in „Der Neue Mensch“ (2001), „Enthüllung und Entrüstung“ (2002), „Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft“ (2004), und dem posthumen erschienenen „Weniger sind mehr: Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist“ (2007) zeigt sich nicht nur die Breite, sondern auch die Menschlichkeit seines Denkens.

Der Blick auf die 35 produktiven Jahre, die Hondrich in Frankfurt verbrachte, zeigt nicht zuletzt die Chancen, die eine frühe Berufung mit sich bringt. Kontinuierlich verbreiterte er seine Perspektiven, das intellektuelle Wagnis neue Themen anzugehen, war ihm immer Herausforderung, nie Abschreckung. Eine karrierregetriebene Spezialisierung war für ihn fremd, Forscher und Forscherinnen die mit der Dissertation oder Habilitation die letzte und einzige thematische Innovation ihres Lebens vollbrachten, irritierten ihn. Über die Zeit hinweg wurde er immer offener gegenüber verschiedenen Weisen Soziologie zu betreiben. Als Generalist nutzte er jede Chance des soziologischen Erkenntnisgewinns. Sein allgemeiner soziologischer Ansatz wurde dabei immer deutlicher: Soziales kann nur durch soziale Grundprozesse begriffen werden. Diese Prozesse sind Erwidern, Werten, Teilen, Verbergen und Bestimmen. Individualität, kollektive Identität, alle kulturellen Muster, ebenso wie wirtschaftliche oder politische Prozesse, entstehen erst durch diese sozialen Prozesse. Gegen Ende seines Lebens waren es diese fünf grundlegenden, unwandelbaren Prozesse auf der er eine, fragmentarisch schon in seinen Werken aufscheinend, allgemeine soziologische Theorie aufbaute. In dieser Syntheseleistung einer genuin soziologischen Theorie, die sich mit voller Absicht von den vielen ökonomistischen, kulturalistischen oder psychologistischen Ansätzen zahlreicher moderner Theorieentwürfe distanziert, zeigt sich ein weiteres mal die analytische Kraft seines Denkens.

Das Gesicht, das Karl Otto Hondrich der Soziologie in der Lehre gab, baute darauf, dass er die Faszination der soziologischen Perspektive vermittelte. Er gab Veranstaltungen zu den unterschiedlichsten Themen (von „’Schmutzige Wäsche’ – Zur Soziologie der Liebe“ bis „Globale und lokale Gemeinschaften“), seine stets überfüllten Vorlesungen waren getränkt durch viele Beispiele aus dem Alltag. Die Vielfalt der Themen irritierte allerdings auch viele seiner Studierenden. Auf die Frage, ob das überhaupt noch Soziologie sei was er da betreibe, meinte er nur in der ihm eigenen Freundlichkeit: „Ich bin Professor für Soziologie, also ist alles was mich interessiert Soziologie.“ Viele haben ihn kennen gelernt, viele hat er beeinflusst. Eine „Akademische Schule“ ist daraus nie geworden, dem gänzlich undogmatischen und offenen Denken von Karl Otto Hondrich wäre dies auch schwer denkbar gewesen.

Auch in der Öffentlichkeit gab Karl Otto Hondrich der Soziologie ein Gesicht. Noch auf dem letzten Soziologiekongress in Kassel 2006 wurde ihm der Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit verliehen. Er publizierte immer auch - in letzter Zeit immer mehr - in Zeitungen und gab Interviews. Er nahm seine Rolle als Intellektueller ernst. Sein unerschütterliches Vertrauen in den demokratischen Prozess ermutigte ihn zu oft erstaunlicher Meinungsfreudigkeit. Er fand, man müsse gegen den Zeitgeist denken, um ihn beeinflussen zu können, dies tat Hondrich dann auch mit Genuss und ganz seiner soziologischen Perspektive entsprechend mit der Lust am intellektuellen Konflikt. Seine Analysen waren oft ernüchternd. Im Gegensatz zu so vielen auf diesem Gebiet war es für ihn ein Leichtes, sich der Versuchung zu entziehen, mit Nützlichkeits- und Veränderungsversprechungen eine nach Heils- und Heilungsversprechungen sich sehnende Öffentlichkeit zu bedienen. Ein ganzes Wissenschaftssystem, das sich dem wohlfeilen Anspruch modischer Nützlichkeits- und Machbarkeitsfantasien fast vorbehaltlos übergibt, war ihm zuwider.

So wie er stets zu leben verstand, so verstand Karl Otto Hondrich auch mit seiner schweren Krankheit umzugehen, die sich mit seiner Emeritierung wieder verschlimmerte: Auch wenn sich damit viele seiner Planungen zerschlugen, ließ er sich sein Schicksal von der Krankheit nicht aus der Hand reißen. Produktiv bis zum Ende, verstarb er seinem Forschungsgegenstand, den Menschen und der Gesellschaft, zugewandt.

Methoden waren Karl Otto Hondrich nur selten wichtig, Theorien waren ihm wichtiger, aber am wichtigsten war ihm die soziologische Erkenntnis. Der Mehrwert einer Arbeit ermaß sich für ihn nicht am Herunterleiern blutleerer Methoden oder Begriffsinstrumentarien, sondern an dem, was sie uns Neues über die Gesellschaft sagen konnte. Welche Gedanken von Karl Otto Hondrich werden der Soziologie bleiben? Die aus seiner „Theorie der Herrschaft“, die aus „Solidarität in der modernen Gesellschaft“ oder seine fünf Grundprozesse des Sozialen? Dass etwas bleiben wird ist sicher, was, ist derzeit kaum zu sagen. In der Aneignung ihrer Vordenker hat die Soziologie schon immer einen erstaunlichen Eigensinn bewiesen. Zu wünschen ist nur, dass ein bisschen von dem, wie er Soziologie betrieben hat, weiter geführt wird. Karl Otto Hondrich betrieb Soziologie immer mit dem notwendigen Respekt vor ihrem Gegenstand: der menschlichen Gesellschaft. Wie er in seinem letzt erschienen Buch „Weniger sind mehr“ schreibt: „Die Gesellschaft weiß immer mehr als jede Autorität“ (265).

Mathias Bös