Ein Abbild der Gesellschaft in den 1960er Jahren

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Ein Abbild der Gesellschaft


In der deutschen Geschichte gibt es nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige Ereignisse, die bis heute prägend für die deutsche Bevölkerung sind. Unter anderem gehören dazu die sechziger Jahre mit ihren weitreichenden Veränderungen. Sowohl in der Forschung als auch in der Lebensweise haben Neuerungen einen Umbruch in der Gesellschaft verursacht, wie er wohl so radikal kaum zuvor stattgefunden hat. Zwar sei die Transformation der Gesellschaft, so Historiker, eher durch einen schleichenden Transformationsprozess, beginnend in den späten 1950er Jahren, von Statten gegangen, doch seien diese Veränderungen vor allem in der sogenannten 68er-Bewegung verkörpert.


Einerseits gab es Errungenschaften wie Farbfernsehen, die Emporhebung von Musikstars wie den Beatles, Elvis oder Chubby Checker und damit die Entdeckung neuen Vergnügens. Nicht selten verhalf ein Einkommenszuwachs und gleichzeitig der erste eigene PKW, sowie die Durchsetzung des arbeitsfreien Samstages Familien zu einem luxuriöseren Lebensstil. Andererseits gab es, so Einschätzungen, einen Verfall tradierter Werte. Während zuvor Gehorsam gegenüber der Eltern eine der Tugenden bedeutete, sollte in den 60ern ein radikaler Wandel stattfinden: Die Erforschung der vergangenen Dekaden und eine damit einhergehende Denunziation der Vätergeneration an dem Zweiten Weltkrieg Mitschuld zu tragen, waren für die jungen Erwachsenen offensichtlich. Dass jedoch einige Elternteile damals selbst erst junge Heranwachsende und zugleich Opfer des Weltkrieges waren, wurde zur Nebensache. Das verstärkte Kramen in der Vergangenheit wurde durch die Verschwiegenheit der Elterngeneration heraufbeschworen und dadurch ein Entfachen der Neugier bei den Jugendlichen provoziert. Die Scham der Eltern über die nationalsozialistische Vergangenheit zu sprechen, wurde als Verdrängung der schrecklichen Geschehnisse diagnostiziert. Worüber niemand sprach, musste selbst nachgeforscht werden.


Michael Naumann sieht in der 68er-Bewegung eine zum ersten Mal stattfindende Hinterfragung der Identitätsstiftung, die bis heute nicht völlig verschunden sei: „Spätestens nach 1945 gab es aus gutem Grund eine Vertrauenskrise zwischen Bürger und Staat. Dies ist bis heute nicht völlig verschwunden. Und wie überwindet man sie? Zum Beispiel durch gesellschaftliche und historische Debatten, die um die Frage kreisen: Wer sind wir? Und diese Frage wurde uns von den 68ern das erste Mal nach dem Krieg schmerzhaft und nachhaltig gestellt.“ Offen für neue Dinge wollte man sein und gleichzeitig mehr Mitspracherecht besitzen. Nicht mehr nur zuschauen was auf der Bühne des Lebens geschieht, sondern selbst agieren lautete die Devise, um sein Schicksal eigens in der Hand zu haben. Dieses Selbstbestimmungsinteresse offenbarte sich sowohl in der Interaktion innerhalb einer Familie als auch im gesellschaftlichen und später politischen Kontext. Antiautoritäre Bewegungen fanden großen Zuspruch, da die „Mentalität des Obrigkeitsstaats damals noch nicht verwelkt war“, so Michael Naumann.


Zusätzliche Neuerungen im Wandel der Gesellschaft, welche letztlich als Probleme identifiziert wurden, belasteten autoritäre Beziehungen. Das neue Selbstvertrauen, welches man aus dem Aufschwung der Marktwirtschaft und der damit verbundenen Steigerung des Wohlstands entwickelte, setzte sich in den Menschen nieder. Während sich die Gesellschaft von einer industriellen zu einer post-industriellen Gesellschaft entwickelte, fand nahezu jeder Arbeitssuchende eine Anstellung. Das verlängerte Wochenende, durch die Einführung der arbeitsfreien Samstage, sollte die Möglichkeiten geben, mehr Freizeit mit der Familie zu verbringen.


Zur gleichen Zeit offenbarte sich aber auch ein Trend der weiblichen Emanzipation, der sich vor allem in dem Strukturwandel der Frauenerwerbstätigkeit widerspiegelte. In den Jahren 1960 bis 1970 Jahren stieg der Anteil an Beamtinnen und Angestellten auf nahezu 40 Prozent an. Während die Zahl an gewöhnlichen Arbeiterinnen sank, stieg die Erwerbstätigkeit der Frauen in damals klassischen Männerberufen. Einher ging dieser Wandel mit der Veränderung der klassischen Familienstruktur: Mütter waren nun nicht mehr nur Hausfrauen, sondern trugen durch außerfamiliäre Beschäftigungen zum Wohlstand der Familie bei. Zugleich musste der Nachwuchs jedoch tagsüber in Kinderkrippen oder Spielstuben untergebracht werden, weshalb der Begriff „Schlüsselkinder“ erstmals prägend für die Epoche war. Mit dem Erlass des Gleichberechtigungsgesetzes im Jahre 1957 wurde die Gleichstellung der Frau gesetzlich besiegelt und somit ein wichtiger Grundpfeiler für die nachfolgende Emanzipation gesteckt. Solche und weitere Neuerungen führten schließlich in eine neue Medien- und Konsumgesellschaft mit der Forderung nach Mehr. Mehr Freiheit, mehr antiautoritäre Vernetzungen.


Der tiefgreifende Wandel der damaligen Gesellschaft und die damit verbundenen familiären Veränderungen waren Nährboden der antiautoritären Protestbewegung, da es zwar einerseits positive Umgestaltungen im Leben der Menschen gab, andererseits aber der Staat und zugleich die Besetzungsmächte durch den Wiederaufbau nach dem Krieg fortwährend großen Einfluss hatten. Dieser Einflussnahme wollten sich die Jugendlichen nicht mehr beugen. Neues Selbstbewusstsein wurde aus politischen Schriften gezogen. Bestätigt wird der gesellschaftliche Hintergrund der Revolte durch die Aussage Michael Naumanns in seinem Interview mit Wolfgang Kraushaar: „68 war doch hauptsächlich eine kulturelle Bewegung und vielleicht zu zwanzig Prozent eine politische. Auf seinem Höhepunkt zählte der SDS maximal 2000 Mitglieder!“ Weiter erwähnt Naumann, dass „68 für die fällige Distanzierung nicht nur von der Generation der im Nationalsozialismus verstrickten Väter steht; es ging auch um die Offenlegung der von Exnazis bevölkerten Universitätslehrkörper.“


Beispiele wie dieses offenbaren den kulturellen Kampf, vielleicht aber auch einen inneren Kampf der Individuen, der sich letzten Endes nur auf dem Rücken der Gesellschaft austragen lies. Den Kampf, seine eigene Identität, das eigene Ich zu finden oder gar neu zu kreieren. Dies konnte nur durch eine Hinterfragung der Historie und eine Abgrenzung zur Elterngeneration erfolgen. Die kritische Theorie war lediglich Mittel zum Zweck: Das Aufgreifen theoretischer Denkmodelle zur Umsetzung verschwommener, idealistischer Ziele half den jungen Menschen damals ihren Weg zu gehen, sich von den Eltern zu distanzieren. In Horkheimer und Adorno fanden sie Theoretiker, in Dutschke und Krahl umsetzungswillige Praktiker.