Deutschland in den 1960er Jahren
In der deutschen Geschichte gibt es nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige Ereignisse, die bis heute prägend für die deutsche Bevölkerung sind. Unter anderem gehören dazu die sechziger Jahre mit ihren weitreichenden Veränderungen. Sowohl intellektuell, als auch alltagspraktisch haben Neuerungen einen Umbruch in der Gesellschaft verursacht, wie er wohl so radikal kaum zuvor stattgefunden hat. Gewiss lässt sich diese Transformation zutreffender als ein schleichender, in den späten 1950er Jahren ansetzender, Transformationsprozes beschreiben.
Dennoch kann man mit Recht in der sogenannten 68er-Bewegung mit ihren Hochburgen in Frankfurt und Berlin einen markanten Kulminations- und Wendepunkt in der deutschen Geschichte sehen. Einerseits gab es Errungenschaften wie Farbfernsehen, die Entstehung einer Rockmusikkultur mit den Beatles oder Chubby Checker und damit die Entdeckung neuen Vergnügens. Nicht selten verhalf ein Einkommenszuwachs und gleichzeitig der erste eigene PKW, sowie die Durchsetzung des arbeitsfreien Samstages Familien zu einem luxuriöseren Lebensstil. Andererseits gab es, so Einschätzungen von Historikern, einen Verfall tradierter Werte.
Während zuvor Gehorsam gegenüber der Eltern zu den selbstverständlichen Tugenden gehörte, sollte in den 60ern ein radikaler Wandel stattfinden: Die Erforschung der vergangenen Dekaden und eine damit einhergehende Denunziation der Vätergeneration an dem Zweiten Weltkrieg Mitschuld zu tragen, waren für die jungen Erwachsenen offensichtlich. Dass jedoch einige Elternteile damals selbst erst junge Heranwachsende und zugleich Opfer des Weltkrieges waren, wurde zur Nebensache. Das verstärkte Kramen in der Vergangenheit wurde durch die Verschwiegenheit der Elterngeneration weiter gefördert und dadurch ein Entfachen der Neugier bei den Jugendlichen provoziert.
Die Scham der Eltern über die nationalsozialistische Vergangenheit zu sprechen, wurde als Verdrängung der schrecklichen Geschehnisse interpretiert. Worüber niemand sprach, musste selbst nachgeforscht werden. „Nachdem die erste Nachkriegszeit vorbei war entdeckten die jungen Leute es hat sich ja gar nichts radikal geändert. Was habt ihr nun eigentlich gemacht? Und fragten dann die Eltern. Und natürlich bei sechs oder sieben Millionen Mitglieder in der Partei waren kaum andere da und die Eltern wollten nicht darüber reden.“1 Auch Fetschers Aussage beschreibt den beinahe unveränderten Zustand, dass zahlreiche ehemalige Parteimitglieder nach wie vor ihren beruf ausübten. Zahlreiche Parteifunktionäre verschwanden kurz nach Kriegsende, um kurz darauf ihre alte Anstellung erneut anzunehmen. „Den Ponto habe ich zufälligerweise gekannt. Das waren eigentlich ganz liebe Leute, größtenteils. Nicht gerade Herr Schleyer, aber gut. Da hat damals der, ich glaube es war (Pause) es war einer von den linken Intellektuellen hat gesagt: „Durch die Gewalttat gegen Schleyer haben sie es fertig gebracht, dieses unsympathische Nazigesicht zum (lacht) Mitleid zu erwecken für dieses unsympathische Nazigesicht.“ Und da ist was dran. Man konnte nicht mehr gegen Schleyer sein, nachdem er so gewaltsam entführt wurde und dann auch noch umgebracht wurde. Natürlich hat er im Dritten Reich die tschechischen Unternehmer enteignet und hat da eine ziemliche Rolle gespielt und hat angeblich auch Leute gerettet. Das hat er sicher auch getan, aber er war eben ein führender Naziwirtschaftler und äh insofern hatten die da schon jemanden getroffen, der für die Kontinuität, das war die eine Idee der Linksradikalen, die Kontinuität der Führung zwischen dem Dritten Reich und dem Nachkriegsdeutschland. Und da waren ein paar Personen, die schon auffielen. Das waren Seehofer, das waren Kloppke, das waren bei den Wirtschaftlern eine ganze Menge Leute, aber eben auch Hanns Martin Schleyer. Aber das ist kein Grund zu sagen, die Bundesrepublik sei neonazistisch oder neofaschistisch oder so. Aber das stimmte schon. Man hatte kaum von den offiziellen, zugelassenen Parteien, hat kaum jemand Anstoß daran genommen, dass es eine gewisse personale Kontinuität gab. War insbesondere bei den großen Unternehmungen, also bei (Pause) Schwarz (lange Pause). Bevor ich promoviert wurde, vielleicht auch nach der Promotion, war ich mit einer Gruppe von französischen Studenten und deutschen Studenten zusammen im Ruhrgebiet. Das war ja die erste große deutsch-französische Kohle- und Stahlgemeinschaft und da stellte sich doch heraus, dass bei den großen Firmen die ganze Führungsgarnitur, die war die gleiche noch wie 1930 oder 1935 oder 1940. Und, na ja, gut. (lange Pause) Such is life.“2
Zusätzlich zu der Vergangenheitskritik kamen die aktuellen Geschehnisse in Vietnam. Nach der französischen Niederlage 1954 gegen die Unabhängigkeitskämpfer in Vietnam, engagierten sich die Vereinigten Staaten zunehmends im Süden des Landes gegen die Vietcong-Rebellen, welche eine Vereinigung mit dem kommunistischen Norden anstrebten. Nach einem Flächenbombadement in Nordvietnam, sowie größflächiger Entlaubung im Süden, um dem Vietcong die Angriffsfläche zu nehmen, gewann diese dennoch die Oberhand. Angesichts der 40 000 eigenen Opfer seitens der USA entwickelte sich eine mächtige Antikriegsbewegung in den 1960er Jahren. Radikale amerikanische Kriegsgegner demonstrierten in zahlreichen Städten gegen die amerikanische Beteiligung am Krieg Übersee. „Der Vietnamkrieg galt für die jugendliche Protestbewegung in der gesamten westlichen Welt als Beweis für den Verrat aller humanitären Ideale durch die westlichen Kriegsparteien.“3
Iring Fetscher berichtet seine Erinnerungen an die 68er-Revolte aus der Perspektive eines Deutschen in den Vereinigten Staaten, da er in den Jahren 1968/69 ein Studienjahr an der New school for social research in New York verbrachte. „Das war für mich auch sehr lehrreich, weil die gleiche Opposition da war. Natürlich gegen den Vietnamkrieg noch viel mehr, die waren ja betroffen und viele Studenten von mir und auch von anderen Universitäten, die waren entweder nach Kanada gegangen, oder hatten ihre Einberufung verbrannt. Aber sie hatten auch eine legale Möglichkeit den Kriegsdienst abzulehnen, indem sie in die Slums gingen als Lehrer. Das haben sie auch gemacht, größtenteils. Und es war (Pause) ich fand das die politische Orientierung war rationaler als bei uns und die war keineswegs sanft. Die haben auch ihre Regierung ganz schön angegriffen und an der New school for social research war ohnehin eine Tradition von Antinazis, Antifaschisten und Linken (Pause) waren noch einige da von den Alten, also die aus dem Dritten Reich geflohen waren, waren emeritiert, aber kamen auch noch zu Veranstaltungen“..... „Andere waren immerhin, sagen wir mal, nicht radikal ablehnend. Sie sagten: "Gut, wir verstehen das. Sie sind enttäuscht, dass das Land sich nicht radikaler verändert hat." Der Eindruck war ja nicht ganz unberechtigt, dass man dachte: Die Nazis sind weg, jetzt kommen die alten Herren wieder. Jetzt kommen die Überlebenden aus der Weimarer Republik an die Lehrstühle. Statt Adorno war es dann eben Adenauer, der das repräsentierte. Dann kam auch noch Ludwig Erhard, der sogar Wirtschaftsprobleme für die Nazis entworfen hatte. Er war nicht so ganz neu vom Himmel gefallen“.... „aber es waren sicher keine demokratischen Neuerer, weder Adenauer noch Ludwig Erhard, noch die anderen. Zum Beispiel der erste Präsident Theodor Heuss. Der hatte noch 1933 für die Machtergreifung gestimmt. Das waren nicht so neue Leute. Es hatten ja alle Parteien mit Ausnahme der Kommunisten und Sozialdemokraten hatten das Ermächtigungsgesetz unterstützt und da war er halt dabei. Und die Katholiken natürlich auch. Die hatten dann gleich das große Konkordat beschlossen im Mai oder Juni 1933.
Michael Naumann sieht in der 68er-Bewegung eine zum ersten Mal stattfindende Hinterfragung der Identitätsstiftung, die bis heute nicht völlig verschwunden sei: „Spätestens nach 1945 gab es aus gutem Grund eine Vertrauenskrise zwischen Bürger und Staat. Dies ist bis heute nicht völlig verschwunden. Und wie überwindet man sie? Zum Beispiel durch gesellschaftliche und historische Debatten, die um die Frage kreisen: Wer sind wir? Und diese Frage wurde uns von den 68ern das erste Mal nach dem Krieg schmerzhaft und nachhaltig gestellt.“4 Offen für neue Dinge wollte man sein und gleichzeitig mehr Mitspracherecht besitzen. Nicht mehr nur zuschauen was auf der Bühne des Lebens geschieht, sondern selbst agieren lautete die Devise, um seinen Lebensweg unabhängig zu beschreiten. Dieses Selbstbestimmungsinteresse offenbarte sich sowohl in der Interaktion innerhalb einer Familie als auch im gesellschaftlichen und später politischen Kontext. Antiautoritäre Bewegungen fanden großen Zuspruch, da die „Mentalität des Obrigkeitsstaats damals noch nicht verwelkt war“5, so Michael Naumann.
Die oben angeschnittenen Umwälzungen in der Gesellschaft, welche letztlich als Probleme identifiziert wurden, belasteten autoritäre Beziehungen. Das neue Selbstvertrauen, welches man aus dem Aufschwung der Marktwirtschaft und der damit verbundenen Steigerung des Wohlstands entwickelte, setzte sich in den Menschen nieder. Während sich die Gesellschaft von einer industriellen zu einer post-industriellen Gesellschaft entwickelte, fand nahezu jeder Arbeitssuchende eine Anstellung. Das verlängerte Wochenende, durch die Einführung der arbeitsfreien Samstage, sollte die Möglichkeiten geben, mehr Freizeit mit der Familie zu verbringen.
Zur gleichen Zeit offenbarte sich aber auch ein Trend der weiblichen Emanzipation, der sich vor allem in dem Strukturwandel der Frauenerwerbstätigkeit widerspiegelte. In den Jahren 1960 bis 1970 Jahren stieg der Anteil an Beamtinnen und Angestellten auf nahezu 40 Prozent an.6 Während die Zahl an gewöhnlichen Arbeiterinnen sank, stieg die Erwerbstätigkeit der Frauen in damals klassischen Männerberufen. Einher ging dieser Wandel mit der Veränderung der klassischen Familienstruktur: Mütter waren nun nicht mehr nur Hausfrauen, sondern trugen durch außerfamiliäre Beschäftigungen zum Wohlstand der Familie bei. Zugleich musste der Nachwuchs jedoch tagsüber in Kinderkrippen oder Spielstuben untergebracht werden, weshalb der Begriff „Schlüsselkinder“ erstmals prägend für die Epoche war. Mit dem Erlass des Gleichberechtigungsgesetzes im Jahre 1957 wurde die Gleichstellung der Frau gesetzlich besiegelt und somit ein wichtiger Grundpfeiler für die nachfolgende Emanzipation gesteckt. Solche und zahlreiche weitere technische und emanzipatorische Errungenschaften führten schließlich in eine neue Medien- und Konsumgesellschaft mit der Forderung nach Freiheiten. Es schien, als kriegte man nicht genug.
Der tiefgreifende Wandel der damaligen Gesellschaft und die damit verbundenen familiären Veränderungen waren Nährboden der antiautoritären Protestbewegung, da es zwar einerseits positive Umgestaltungen im Leben der Menschen gab, andererseits aber der Staat und zugleich die Besetzungsmächte durch den Wiederaufbau nach dem Krieg fortwährend einen obrigkeitsstaatlichen Einfluss hatten auf die deutsche Bevölkerung, deren historische, soziale und kulturelle Entwicklung. Dieser autoritären Einflussnahme wollten sich die Jugendlichen nicht mehr beugen. Neues Selbstbewusstsein wurde aus politischen Schriften gezogen. Bestätigt wird der gesellschaftliche Hintergrund der Revolte durch die Aussage Michael Naumanns in seinem Interview mit Wolfgang Kraushaar: „68 war doch hauptsächlich eine kulturelle Bewegung und vielleicht zu zwanzig Prozent eine politische. Auf seinem Höhepunkt zählte der SDS maximal 2000 Mitglieder!“ Weiter erwähnt Naumann, dass „68 für die fällige Distanzierung nicht nur von der Generation der im Nationalsozialismus verstrickten Väter steht; es ging auch um die Offenlegung der von Exnazis bevölkerten Universitätslehrkörper.“7
Beispiele wie dieses offenbaren den kulturellen Kampf, vielleicht aber auch einen inneren Kampf der Individuen, der sich letzten Endes nur auf dem Rücken der Gesellschaft austragen lies. Den Kampf, seine eigene Identität, das eigene Ich zu finden oder gar neu zu kreieren. Dies konnte nur durch eine Hinterfragung der Historie und eine Abgrenzung zur Elterngeneration erfolgen. Die kritische Theorie war hierbei Mittel zum Zweck: Das Aufgreifen theoretischer Denkmodelle zur Umsetzung verschwommener, idealistischer Ziele half den jungen Menschen damals ihren Weg zu gehen, sich von den Eltern zu distanzieren. In Horkheimer, Adorno, Fromm und Marcuse fanden sie Theoretiker, in Dutschke, Krahl und Cohn-Bendit umsetzungswillige Praktiker.