Die Gründung der DGS als Differenzierungsprozess sozialwissenschaftlicher Institutionen

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Aus: Deutsche Gesellschaft für Soziologie:[1]

Die akademische soziologische Vereinigung seit 1909* von Wolfgang Glatzer

Vorgeschichte

Dass Marianne Weber ihrem Gatten Max Weber 1911 zum Geburtstag wünschte: "Der Teufel hole die soziologische Gesellschaft ... denn außer den hübschen Tagungen wird sie ein leerlaufender Apparat bleiben!" (zitiert nach von Ferber 1959) ist Ausdruck einer konfliktreichen Lage, welche die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) in den meisten Phasen ihrer Geschichte kennzeichnete, freilich ohne dass sich Marianne Webers Wunsch erfüllte. Inzwischen blickt die DGS auf eine mehr als 90-jährige Geschichte zurück, deren Entwicklungsverlauf und zentrale Ereignisse im folgenden betrachtet werden.

Als die DGS 1909 gegründet wurde, gab es im Deutschen Reich weder einen Lehrstuhl für Soziologie noch eine soziologische Zeitschrift noch irgendwelche anderen Merkmale, wie sie etablierte Wissenschaften aufweisen. Die DGS wuchs seit ihrer Gründung von einer kleinen Gruppe soziologisch interessierter Gelehrter (ausschließlich Männer) zu einer größeren akademischen Vereinigung in der Bundesrepublik Deutschland mit einer Mitgliedschaft von ungefähr 1300 Personen (beiderlei Geschlechts). Die zentrale Veranstaltung der DGS war über die ganze Zeit der Deutsche Soziologentag, der zwischen 1910 und 1998 insgesamt 29-mal stattfand - seit 1995 unter neuem Namen - und somit zu sehr unterschiedlichen Phasen der deutschen Geschichte abgehalten wurde. Auf diese Weise spiegeln die publizierten Konferenzbände der Soziologentage wider, in wie weit sich die Soziologen durch die Probleme ihrer Zeit herausgefordert fühlten.

In dieser Abhandlung wird die Entwicklung der DGS in chronologischer Reihenfolge unter Konzentration auf die wichtigsten Ereignisse und strukturellen Charakteristika beschrieben. Die DGS wird in ihrer Beziehung zur langsamen Etablierung der soziologischen Profession und zu den sie umgebenden gesellschaftlichen Entwicklungen und Krisen betrachtet. Dabei werden fünf Phasen unterschieden: Die Gründungszeit der DGS um 1909, die Zeit der Weimarer Republik 1919 bis 1933, die nationalsozialistische Zeit 1933 bis 1945, die Nachkriegszeit 1946 bis 1968 und die letzten Jahrzehnte seit 1969.


Die Gründung der DGS als Differenzierungsprozess sozialwissenschaftlicher Institutionen

Die DGS entwickelte sich in einem Prozeß der Differenzierung sozialwissenschaftlicher Einrichtungen und war selbst der Ausgangspunkt für weitere Institutionen. Lange Zeit, bevor die DGS ins Leben gerufen wurde, vertrat der 1858 gegründete Volkswirtschaftliche Kongress eine prononcierte wirtschafts- und gesellschaftspolitische Position (Gorges 1980, S. 38). Seine Mitglieder waren Anhänger des frühen Liberalismus und Manchester-Kapitalismus und wandten sich gegen oppositionelle Ideen, insbesondere auch gegen moderate, nicht-marxistische Positionen. Dies war der Auslöser für die Gründung des Vereins für Socialpolitik, dem insbesondere Professoren, aber auch andere Mitglieder angehörten. Er wurde zu einem wichtigen Forum der Sozialwissenschaften im Kaiserreich, dessen Anhänger für sozialpolitische Innovationen und friedliche Reformen eintraten. Gesellschaftspolitisch bezogen sie Position zwischen Liberalismus und Marxismus, und nicht selten wurden sie als Kathedersozialisten kritisiert. Als ihre Hauptaufgabe bildete sich die Unterstützung sozialwissenschaftlicher Enqueten über soziale Probleme heraus, die als wissenschaftliche Voraussetzung sozialer Reformen angesehen wurden (Gorges 1986). Dies stimulierte intensive politische Debatten. Die damit verbundenen Konflikte werden in den Chroniken des Vereins für Socialpolitik aus der damaligen Zeit viel offener berichtet als es heute geschieht (Boese 1939). So läßt sich nachlesen, dass bereits 1905 ein Disput zwischen Gustav Schmoller, dem angesehenen langjährigen Präsidenten des Vereins für Socialpolitik, und Max Weber nur oberflächlich durch Briefwechsel beigelegt werden konnte.

Eine kleine Gruppe von 39 Wissenschaftlern, die sich als Förderer einer heraufziehenden Soziologie verstanden, gründete am 3. Januar 1909 im Hotel Esplanade in Berlin die Deutsche Gesellschaft für Soziologie. Zu dieser Zeit gab es bereits die amerikanische soziologische Vereinigung, die 1906 gegründet worden war (Hardin 1977, S. 23). Am Anfang der DGS wurden drei Vorsitzende gewählt: Präsident wurde Ferdinand Tönnies, dem insbesondere für sein bereits 1887 veröffentlichtes Werk "Gemeinschaft und Gesellschaft" mehr und mehr Anerkennung zuteil wurde (Clausen/Schlüter 1991). Zum Vorstand gehörten außerdem Georg Simmel und Friedrich Herkner, der bald durch Werner Sombart ersetzt wurde. Max Weber nahm die Position eines "Rechners" für sich in Anspruch. Die Herkunft der Soziologie aus ihr nahestehenden Wissenschaften kommt in den Professionen der Gründungsväter zum Ausdruck. Mitglieder aus dem ersten Vorstand waren aus den Feldern der Ökonomie, Statistik, Philosophie, Psychologie, Geschichte, Rechtswissenschaft, Sozialpolitik und Theologie. Manchmal, wie in den Fällen von Ferdinand Tönnies und Max Weber, konnten die Mitglieder auf das Studium mehrerer Fächer verweisen. Neben den oben erwähnten Mitgliedern wurde die Einladung, die DGS zu gründen, unterzeichnet u.a. von Paul Bahrt (Leipzig), Hermann Cohen, (Marburg), Rudolf Goldscheid (Wien/Berlin), Hermann Kantorowicz (Freiburg), Franz Oppenheimer (Berlin), Werner Sombart (Berlin), Ernst Troeltsch und Alfred Weber (beide Heidelberg).

Der berühmte Werturteilsstreit über die Rolle von Wertungen in der Wissenschaft spielte bei der Trennung der DGS vom Verein für Socialpolitik sicher eine ernst zu nehmende Rolle, aber es wurden auch Zweifel geäussert, ob es wirklich der wichtigste Streitpunkt gewesen sei (Rammstedt 1991). Von Beginn an waren grundverschiedene Persönlichkeiten mit eigenen Interessen, wie neben Max Weber insbesondere Rudolf Goldscheid, vertreten, die die Idee, die DGS zu gründen, durchsetzten (Honigsheim 1959). Interessanterweise stellt Ferdinand Tönnies im Nachruf für Rudolf Goldscheid fest "Der Gedanke einer solchen Gesellschaft hat zuerst in ihm Gestalt gewonnen" (Tönnies, 1932, S. 430).

Die Verhandlungsprotokolle des 1. Deutschen Soziologentages 1910 in Frankfurt sind ein Dokument der Etablierung einer neuen Wissenschaft. Die Referenten nahmen die Fragen nach dem Gegenstand der Soziologie, nach ihrer methodologischen Begründung und nach ihrer Beziehung zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen auf. Der 2. Deutsche Soziologentag, der 1912 in Berlin abgehalten wurde, wandte sich der Frage der Nation und Nationalitäten zu und warf damit ein Problem auf, dessen brisante Aspekte damals nicht ausreichend erkannt wurden.

Die Gründung der DGS bedeutete keinesfalls das Ende für den Differenzierungsprozess sozialwissenschaftlicher Institutionen. Bereits 1929 gab es die Loslösung der Deutschen Gesellschaft für Statistik von der DGS. Die Statistiker hatten seit 1911 eine Abteilung der DGS gebildet (Müller 1932). Ihr Vorsitzender Georg von Mayr verstand Statistik als Gesellschaftslehre auf der Grundlage erschöpfender Massenbeobachtungen (Grohmann 1989). Die Distanz von Soziologie und Statistik war nicht so groß, wie man es heutzutage vermuten würde und dennoch setzten sich mittelfristig die Verselbständigungstendenzen durch. Im Hinblick auf die Wissenschaft von der Politik ist festzustellen, dass ihre Organisationen erst viele Jahre später entstanden. Die "Deutsche Vereinigung für politische Wissenschaft" (DVPW) wurde 1950 gegründet, und als Konflikte um die Grundsätze politikwissenschaftlicher Arbeitsweise entstanden, erfolgte vorübergehend eine Auftrennung durch die neugebildete "Deutsche Gesellschaft für Politikwissenschaften" Mitte der 70er Jahre (Naßmacher 1994, S.434). Es erfolgten auch Differenzierungsprozesse der deutschsprachigen Soziologie in internationaler Hinsicht: Die Österreichische Gesellschaft für Soziologie wurde 1950 gegründet, die Schweizer Gesellschaft für Soziologie im Jahr 1955. Ein weiterer Verband für Soziologen wurde 1972 mit Förderung der DGS eingerichtet: der Berufsverband Deutscher Soziologen e.V. (BDS) hat als Anliegen die professionelle Vertretung von Soziologen und kooperiert in gemeinsamen Anliegen mit der DGS.

Das Aufkommen neuer Vereinigungen, die aus älteren hervor gehen, ist gewöhnlich ein Resultat von Kontroversen über die Perspektiven und Paradigmen der wissenschaftlichen Disziplinen. Diese Kontroversen enden gewöhnlich nicht, vielmehr halten die alten Dispute in den neuen Organisationen meistens an. Der Verein für Socialpolitik verstand sich selbst als Vermittler zwischen der Welt der Wissenschaft und der Welt praktischer Akteure (Schmoller 1912). Die Abspaltung der DGS wurde unterstützt von Sozialwissenschaftlern, die politische Verlautbarungen innerhalb der Sozialwissenschaften vermeiden wollten. Max Webers Idee der Wertfreiheit fand ihren Niederschlag in der ersten Satzung der DGS: "Ihr Zweck ist die Förderung der soziologischen Erkenntnis durch Veranstaltung rein wissenschaftlicher Untersuchungen und Erhebungen, durch Veröffentlichung rein wissenschaftlicher Arbeiten und durch Organisation von periodisch stattfindenden deutschen Soziologentagen." (DGS 1910, S. V). Es wurde hinzugefügt, dass alle sozialwissenschaftlichen Ansätze und Methoden gleichmäßig Raum erhalten sollten und dass keine Vertretung irgendwelcher praktischer Ziele (ethisch, religiös, politisch, ästhetisch) vorgenommen werden sollte.

Die Betonung des Zieles der Wertfreiheit wurde nicht allzulange aufrechterhalten. Es ist eine ironische Implikation des Prinzips der Wertfreiheit, dass es schließlich mehr Wertdiskussionen und wissenschaftspolitische Auseinandersetzungen als die meisten anderen Probleme verursachte. Im Anschluss an die verstärkten Dispute auf dem 2. Deutschen Soziologentag erklärten Max Weber, Georg Simmel und Alfred Vierkandt im Jahr 1913 ihren Rücktritt aus dem Vorstand (Karger 1978, S. 110). Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war die DGS hauptsächlich damit befasst, ihre eigene Organisation zu stabilisieren. Im Ersten Weltkriegs waren nicht wenige der bedeutenden DGS-Mitglieder an der Mysthifizierung und Glorifizierung des Krieges beteiligt. So erschien Alfred Weber der Erste Weltkrieg als "sphinxhaftes Riesenrätsel", das kaum zu erklären sei (Papcke 1985, S.139).


Die DGS während der Weimarer Republik

Die Wiederbelebung der DGS nach dem 1. Weltkrieg wurde vom Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften in Köln initiiert, das als erstes soziologisches Forschungsinstitut 1919 gegründet wurde. Die erste Sitzung des Vorstands und des Hauptkomitees der DGS wird auf 1920 datiert (Gorges 1986, S. 80). Die Ziele der Vereinigung wurden neu definiert: "Die DGS ist eine Gelehrtengesellschaft, die den Zweck hat, den Gedankenaustausch zwischen ihren Mitgliedern zu fördern, und von Zeit zu Zeit öffentliche Soziologentage zu veranstalten. Sie widmet sich den Problemen der reinen und der angewandten Soziologie unter Einschluß der Sozialpolitik" (zitiert nach Karger 1978, S. 173). Die explizite Erwähnung von angewandter Soziologie und Sozialpolitik indiziert - verglichen mit der ersten Satzung - eine markante Veränderung, die als eine partielle Wiederanpassung an die Prinzipien des Vereins für Socialpolitik gesehen werden muß. Damit schien eine zufriedenstellende Regelung gefunden worden zu sein, denn die DGS arbeitete unter der gleichbleibenden Satzung und demselben Präsidenten Ferdinand Tönnies die ganzen Jahre der Weimarer Republik hindurch.

Regelmäßig seit 1922 wurde alle zwei Jahre ein Deutscher Soziologentag abgehalten. Das Hauptthema von 1922 in Jena war die "Revolution", und zum ersten Mal gewann eine Konfrontation von marxistischen und bürgerlichen Positionen auf einem Soziologentag einige Bedeutung (von Wiese 1959, S. 13). 1924 gab es in Dresden Diskussionen über Soziologie, Sozialpolitik und Sozialstruktur. Der Soziologentag in Wien 1926 befasste sich mit dem Konzept der "Demokratie", und der Soziologentag, der 1928 in Zürich abgehalten wurde, konzentrierte sich auf die "Konkurrenz". Diese beiden Konferenzen außerhalb von Deutschland zeigen an, daß Soziologen aus Österreich und der Schweiz dem sozialen Netzwerk der DGS angehörten. Aber es dauerte dann bis 1988, bis erneut ein Soziologentag in Zürich veranstaltet wurde. Der letzte Soziologentag in der Weimarer Republik fand 1930 wieder in Berlin mit dem Thema "Die Presse und die öffentliche Meinung" statt. Diese Thematik, die ursprünglich vom bereits 1920 verstorbenen Max Weber vorgeschlagen worden war, war sicherlich eine innovative Tagungsproblematik. Zur gleichen Zeit fanden aber der Niedergang der ersten deutschen Demokratie, die Weltwirtschaftskrise mit ihrer außerordentlichen Arbeitslosigkeit und die verbreitete Armut keinen Ausdruck in der Thematik eines Soziologentags. Wie es auch in anderen Dokumenten deutlich wird (vgl. Käsler 1985), ist der Aufstieg des Nationalsozialismus nur in seltenen Fällen vorhergesehen worden.

Die Weimarer Zeit kann als die Take-off-Phase der Soziologie betrachtet werden. Auf die Gründer der Soziologie aufbauend etabliert sich die Soziologie während der Weimarer Republik als wissenschaftliche Disziplin mit zunehmender kognitiver Differenzierung und empirischen Forschungsstrategien (Habermas 1992, S. 184). Vor der Weimarer Zeit war die Soziologie an den Universitäten nicht vertreten. Während dieser Zeit etablierten sich erste Lehrstühle und Forschungsinstitute, aber es war immer noch nicht möglich, Soziologie als Hauptfach zu studieren. Am Ende der Weimarer Republik wurden die meisten Soziologen unter dem Druck des Nationalsozialismus zu Flüchtlingen. Aber die Art des Neubeginns nach dem 2. Weltkrieg ist ohne die Erfolge der Soziologie in der Weimarer Zeit nicht vorstellbar.


Die DGS und der Nationalsozialismus

Als die nationalsozialistische Machtergreifung im Januar 1933 erfolgte, existierte die DGS zunächst weiter, obwohl ein Teil ihrer Mitglieder bereits das Land verlassen hatte bzw. gerade verließ. Was dann mit der DGS geschah, ist teilweise unklar und ein interessantes Beispiel dafür, wie schwierig es ist, Begebenheiten zu klären, die moralisch fragwürdig erscheinen. Im Bericht von Leopold von Wiese, der selbst in die Ereignisse einbezogen war, wird dargestellt, daß im Verlauf des Jahres 1933 der DGS-Präsident Ferdinand Tönnies, der in starker Opposition zum Nationalsozialismus stand, sein Amt niederlegte. Er wurde durch drei Vorsitzende ersetzt: Hans Freyer, einer Vertrauensperson der Nationalsozialisten, Werner Sombart und Leopold von Wiese, die sich beide seit langer Zeit im Vorstand engagiert hatten. Aber später wurde aufgrund von Wünschen des Kultusministeriums der Erstgenannte zum Führer der Vereinigung ernannt, und die beiden anderen hatten ihren Abschied zu nehmen. Nach einem Treffen der auf diese Weise umgewandelten DGS im Januar 1934 entschied Hans Freyer, "die Aktivitäten der Vereinigung einzustellen" (von Wiese 1959, S. 17).

Der Soziologe Helmut Schelsky, der bekanntlich in der Nachkriegszeit sehr einflußreich wurde, war während der fraglichen Zeit ein Schüler von Hans Freyer. Er führt die Entscheidung von Freyer, die DGS zu schließen, auf dessen moralische Persönlichkeit und seine grundsätzlich liberale Auffassung von Wissenschaft zurück (Schelsky 1981, S. 23). Er nimmt an, daß die Entscheidung von den Nationalsozialisten akzeptiert wurde, weil das Fach Soziologie ihnen zu unbedeutend war, um es in den Prozeß der Gleichschaltung einzubeziehen. Vielmehr wünschten die Nationalsozialisten, daß die Bezeichnung Soziologie verschwände, und praktizierten dies insoweit, als sie die Bezeichnung bei neu geschaffenen Lehrstühlen vermieden und bei älteren umwandelten (Schelsky 1981, S. 25).

Diese Beschreibungen und Interpretationen werden von anderen Soziologen nicht akzeptiert. Otthein Rammstedt zufolge, der eine Rekonstruktion der deutschen Soziologie von 1933 bis 1945 vornahm, soll die DGS unter dem Vorsitz von Hans Freyer einige Jahre über 1933 hinaus aktiv geblieben sein (Rammstedt 1986, S. 19). Allerdings sind die Dokumente dazu während des Krieges verbrannt. Zwar gibt es einzelne Erwähnungen der DGS nach 1933, aber ob daraus auf anhaltende Aktivitäten geschlossen werden kann, ist äußerst zweifelhaft. Ein Nachweis, daß die DGS Teil eines anhaltenden soziologischen Engagements während des Dritten Reiches war, lässt sich nicht führen. Aber die Information, wie sehr ein Teil der Sozialwissenschaftler mit nationalsozialistischen Behörden kooperierte, war weitgehend in Vergessenheit geraten (vgl. Paulsen 1988).

Das Resümee von M. Rainer Lepsius (1979, S.28/29) lautet zu 1933 folgendermaßen: "... die Deutsche Gesellschaft für Soziologie hatte zu funktionieren aufgehört ... Unter ihrem Namen fanden keine Veranstaltungen statt, sie hat keine politisch verfolgten Mitglieder förmlich ausgeschlossen, keine neuen und möglicherweise nationalsozialistischen Mitglieder aufgenommen und keine Mitgliedsbeiträge erhoben". Diese Sichtweise ist konform mit anderen Beschreibungen (Matthes 1981, S. 38), insbesondere mit jenen, die auf dem Hintergrund des Nachlasses von Ferdinand Tönnies erstellt wurden (Käsler 1984, S. 513). Es erfolgte offenbar keine formale Auflösung wie im Fall des Vereins für Socialpolitik, dessen Mitglieder 1936 die Auflösung erklärten (vgl. Boese 1939, S. 291). Aber ohne Zweifel erfuhren die Aktivitäten der DGS am Ende der Weimarer Republik einen Bruch, und wurden nach dem Januar 1934 nicht fortgeführt. Auch die Entwicklung der Soziologie im Allgemeinen ist beim Übergang in das Dritte Reich weit mehr als Kontinuitätsbruch und keinesfalls als Fortsetzung der soziologischen Tradition zu verstehen (König 1987, S. 388). Doch dies wird mit dem Verweis auf anhaltende Aktivitäten von Soziologen unter dem Nationalsozialismus, wenn auch in veränderter Form und Erkenntnisrichtung, teilweise infrage gestellt.

So gab es Versuche "völkischer" Soziologen, sich zu organisieren, und eine "Reichssoziologie" aufzubauen (Klingemann 1996). Es ist auch interessant, dass einige wenige, teilweise unbekannte deutsche Soziologen am amerikanischen soziologischen Kongress 1934 teilnahmen, ebenso am 12. Internationalen Kongreß in Brüssel und am 13. in Paris 1937 (Rammstedt 1986, S. 21). Dies bestätigt die Einschätzung, dass Emigration offensichtlich nicht die einzige Reaktion der Soziologen war. In die Emigration gingen so gut wie alle angesehenen Soziologen, insbesondere diejenigen von jüdischer Herkunft, die maßgeblich zur Reputation der deutschen Soziologie in der Weimarer Zeit beigetragen hatten. Sie wurden aus ihren Professuren verdrängt, erhielten ihre Pensionen gekürzt und litten zusammen mit ihren Familien (Käsler 1985). Eine Anzahl von Soziologen versuchte, das Dritte Reich in Deutschland zu überstehen, ohne sich dem Nationalsozialismus anzupassen, und riskierte dabei ihre berufliche Entwicklung. Eine dritte Gruppe bekannte sich mehr oder weniger offen zur nationalsozialistischen Ideologie und definierte sich selbst als völkische Soziologen (Maus 1959). Dies mag eine sehr grobe Typisierung sein angesichts der Kompliziertheit der individuellen Lebensläufe und des Umstands, dass einige Soziologen im Laufe der Zeit zwischen den verschiedenen Verhaltensmustern wechselten. Alles in allem spricht vieles dafür, ein emphatisches Verständnis von Soziologie aufrechtzuerhalten, wie es Lepsius tut (1979, S.28): "Eine nationalsozialistische Soziologie ist jedoch nicht entstanden, und sie konnte schon deswegen nicht entstehen, weil der rassistische Determinismus der nationalsozialistischen Weltanschauung das Gegenprogramm einer soziologischen Analyse darstellte." Diese Stellungnahme aus den Siebziger Jahren blieb nicht das letzte Wort. In den neunziger Jahren brachen Bewertungsunterschiede der Rolle der Soziologie im Nationalsozialismus erneut auf. Kontinuität und Bruch der Soziologie im Dritten Reich wurden in gegensätzlichen Diskussionsbeiträgen wieder zur Debatte gestellt (vgl. die Beiträge im Mitteilungsblatt Soziologie 3/1997, 4/1997, 1/1998, 2/1998).