Nun wollte ich sehen wie der Staat arbeitet

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FEUILLETON Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.02.2008, Nr. 41, S. 36

Nun wollte ich sehen, wie der Staat arbeitet

Sein Vater war ein Orchideenfachmann: Die Jugendzeit in Venezuela lehrte Wilhelm Hennis das Misstrauen gegenüber Projekten. Im Gespräch blickt er zurück auf ein Leben für die Politik als praktische Wissenschaft. Herr Hennis, lassen Sie uns autobiographisch vorn beginnen. Wie sind Sie aufgewachsen, in was für einem Elternhaus?

Ich bin in einem wundervollen Haus aufgewachsen, richtige Großfamilie, eines dieser um Hildesheim liegenden Landschlösschen der adeligen Domherren. Es steht heute ganz für sich an der Innerste, einem kleinen Fluss. Eine traumhafte Jugend mit einer Schwester und drei Cousins im Hause, so dass wir genügend Spielgefährten im Haus hatten. Und dann kamen sie auch aus der ganzen Verwandtschaft, um in diesem großen Garten, der zu dieser Gärtnerei gehörte, zu spielen. Von großelterlicher väterlicher Seite komme ich aus einer richtigen Pfarrersdynastie aus Witte, da gibt es massenweise Superintendenten in Niedersachsen, und in der Christuskirche, oben beim Marienberg, da residierte der große Herr Pastor, dessen eine Schwester meine Großmutter gewesen ist, die eine sehr zauberhafte Frau gewesen sein muss und sehr früh starb. Sie hatte noch zwei Schwestern, richtige Besen, so alte Jungfrauen, die darauf aufpassten, dass Helmi, mein Vater, und Trude auch ja den rechten Lebenswandel führten. Und das führte die dazu, den lieben Gott im Wald zu suchen. Sie hatten, was ich später immer sehr bedauert habe, recht wenig Verhältnis zu religiösen Fragen. Das wurde ihnen von diesen alten Jungfern so richtig ausgetrieben. Mein Vater hat dann in Herrenhausen Gartenplanung studiert. Aber er war naturwissenschaftlich, außerhalb der Pflanzen, uninteressiert. Er war ein hervorragender Botaniker, aber das war Kenntnis, das war wie bei einem Sammler, keine wissenschaftliche Ergründung.

Als Sie zehn Jahre alt waren, 1933, wanderten Ihre Eltern aus. Geschah das aus politischen Gründen?

Mein Vater war ein musischer Mensch, sein eigener Vater ließ ihn reisen, und das war später die Grundlage dafür, dass wir aus Deutschland weggegangen sind. Sein Bruder war ein richtiger Stahlhelmer und später ein Nazi, und mein Vater konnte damit nun gar nichts anfangen. Er war von der weltläufigen Art meines Großvaters. Wenn der ihm erzählte, Junge, wenn du nach Medellín kommst, dann reite in Richtung Honda, und eine Stunde vor Honda da musst du dich rechts in den Wald reinschleichen und dann in Richtung eines kleinen Pueblos, da wachsen cattleya triane - solche Erzählungen habe ich als kleiner Junge, sechs-, achtjährig, mitbekommen und staunte über das Ortsgedächtnis meines Großvaters. Das war ein Beobachter! Im Februar 1933 stürmte dann mein Onkel zu uns hoch: "Helmi, deine Freunde haben den Reichstag angezündet." Mein Vater hatte wohl schon lange mit dem Gedanken an Auswanderung gespielt, er hatte viele Freunde, auch Orchideensammler, in Venezuela und Kolumbien. Während mein Großvater in der ganzen Welt, wo es Orchideen gibt, herumgekommen ist, bis nach Hinterindien, war mein Vater nur in Kolumbien und Venezuela gewesen. Einer seiner Gönner war Mr. Five-Prozent von Venezuela. Die Ölproduktion dort fing gerade erst an, und Mr. Dolge war ein schlauer Kaufmann, ein amerikanischer Jude, der Deutsch fließend sprach, in Deutschland studiert hatte und mit einer Deutschen verheiratet war, einer Schwester des berüchtigten Carl Peters. Er beriet den damaligen Diktator von Venezuela, Gómez, in Wirtschaftsangelegenheiten, und der war ganz auf die agrarische Welt eingestellt, an Industrialisierung überhaupt nicht interessiert. Denn dann kämen die Leute ja nur auf dumme Gedanken. Das Land gehörte zum großen Teil ihm, und überall hatte er Verwandtschaft als Verwalter eingesetzt. Immerhin aber: Ölproduktion. Das machten Shell und Standard-Oil, die hatten sich das etwa geteilt, und der Sage nach bekam Mr. Dolge von allem, was die zahlten, fünf Prozent. Dieser "Mr. Five-Prozent" also - wahrscheinlich kassierte er fünfzig - hatte Ende 1932 zu meinem Vater gesagt: "Herr Hennis, es könnte sein, dass es Ihnen in Deutschland bald nicht mehr sehr gefällt, und wenn Sie da nicht bleiben wollen, ich habe immer was für Sie." Und jetzt avisierte mein Vater ihm: Hätten Sie was? Antwort: Sofort, Sie müssen aber erst nach Italien und Jugoslawien und müssen sich mit Maulbeerpflanzen beschäftigen. Gómez will autark werden auf dem Gebiet des Seidenraupenanbaus. Mein Vater bekam ein riesiges herrliches Areal, und nachdem er das gelernt hatte in Jugoslawien und Norditalien, fuhren wir im Juni 1933 nach Venezuela.

Das klingt, wie von einem jener Projektemacher ausgedacht, die Sie später als typische Figuren moderner Unvernunft beschrieben haben.

Für uns Kinder - ich war gerade zehn Jahre alt, meine Schwester acht - war das ein unglaubliches Erlebnis. Dort, wo Gómez residierte, war eine Schwefelquelle mit einem wunderbaren Hotel, wo Gómez einmal im Jahr einen langen Urlaub machte, um seine Nieren- und Prostatabeschwerden etwas zu lindern. Und um dieses Hotel herum waren unendlich viele Riesenvillen seines Klans, und in diesem Ort unter seinen Augen wollte er sehen, was mit den Seidenraupen passiert. Mein Vater hatte also innerhalb eines Jahres die nötige Fressmenge an Blättern für die Raupen. Da kamen die Raupen, und den Raupen bekam das Klima nicht, und nach wenigen Tagen in einem großen Gestank war das Projekt beendet. Genau darum habe ich etwas gegen Projekte, Projekte vergessen, was um sie herum geschieht. In einem solchen Klima kann man keine Raupen halten.

Sie selber haben Venezuela bald wieder verlassen.

Mein Vater ist dort in die pharmazeutische Industrie gegangen. Meine Mutter aber war sehr unglücklich drüben, gesundheitlich bekam ihr das Klima nicht, sie ließ sich 1938 im Tropenkrankenhaus in Hamburg behandeln. Als sie ihre Rückreise antreten wollte, am 1. September 1939 auf einem Hapag-Schiff - ich war in Hamburg und wollte winken -, da war der Krieg ausgebrochen. Das Schiff fuhr nicht mehr weg, und meine Mutter war froh, dass sie nicht nach Venezuela musste. Mein Vater ist dann 1942 nach Deutschland gekommen und hat sich austauschen lassen. Es gab die Möglichkeit, dass gegen einen Amerikaner ein Deutscher ausgetauscht wurde. Er ist aber sofort nach dem Krieg wieder nach Venezuela zurückgegangen und meine Mutter auch, die dann sehr glücklich da drüben gewesen ist.

Sie wurden dann zur Marine eingezogen, waren im Krieg, hatten ein Verfahren gegen sich wegen Wehrkraftzersetzung, gerieten in Italien in Gefangenschaft. Wie begann Ihr intellektueller Lebenslauf?

Das war nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen. Eigentlich wollte ich auf Anregung von Rudolf Smend eine Dissertation über das Problem des Öffentlichen schreiben. Aber ich kam nicht zu Potte, und da sagte mir der gütige Smend: "Sie haben doch so eine schöne Seminararbeit geschrieben, die können Sie doch ausbauen, machen Sie vorne und hinten noch etwas ran." Das war meine Dissertation "Das Problem der Souveränität", in der ich auch die kleine Entdeckung untergebracht habe, dass unser moderner völkerrechtlicher Begriff der Souveränität genealogisch vom Autarkiebegriff der Griechen abhängt. Nur ein Staat, der sich selbst verteidigen kann aufgrund von Bündnissen, dem kann man zusprechen, dass er souverän ist, den muss man also achten, dem kann man nicht auf die Füße treten. Aus der Arbeit über Öffentlichkeit wurde dann eine kleine Studie über Rousseau und eine über Meinungsforschung.

Darin haben Sie heftig polemisiert gegen die Vorstellung, die öffentliche Meinung lasse sich errechnen.

Was mir immer bleibend wichtig ist, auch jetzt wieder bei der großen Koalition, das war damals, nach einem langen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten 1952, dass ich sah, wie eine Gesellschaft ohne Parteistrukturen, die gesellschaftlich begründet waren, zerfiel. Mein Konflikt mit der SPD war wesentlich begründet in der Uneinsichtigkeit von Kurt Schumacher, dem man es nachsehen kann, der fast zwölf Jahre im KZ saß und gar nicht mitbekam, was draußen in der Welt geschah: dass die alten gesellschaftlichen Strukturen zerfielen und ebendarum über kurz oder lang die Volkspartei die einzige Partei war, die Chancen hatte. Adenauer hat das schnell erfasst. In der SPD aber haben erst die Reformer von Godesberg gesehen, dass eine sozialistische Partei keine Chance hat, weil ihr die Basis fehlt. Und das ist ja bis heute nicht ausgetragen. Meine erste selbständige Veröffentlichung "Meinungsforschung und repräsentative Demokratie" ist der Versuch zu zeigen, dass die Meinungsforschung etwas ist, was aufkommt, wenn es eben nicht sicher ist, wie die Gesellschaft strukturiert ist. Ein Bebel konnte noch hinter sich gucken und wusste, die stehen hinter mir, ein Zentrumsführer genauso, aber genauso wusste der Deutschnationale auch, irgendwo zwischen zehn oder zwanzig Prozent kann es liegen. Das war nun alles unsicher geworden. Die Parteien wissen auch heute überhaupt nicht, was los ist, die SPD etwa ist völlig unsicher, welche ihrer Wähler vielleicht doch zu den Linken gehen. Diese Fragen der Auflösung der alten Gesellschaftsstrukturen haben mich immer sehr beschäftigt, ob das nun Adel, Bürgertum, religiöse Formationen sind, das ist ja nun einfach das Substrat der Politik, die Menschen, wie man sie gesellschaftlich formiert schon vorfindet. Das hat mich an der Sozialdemokratie verzweifeln lassen, dass sie nicht sah, dass ihre sozialistischen Vorstellungen nicht in Schulpolitik oder Universitätspolitik umsetzbar waren. Der von mir sehr geliebte und geschätzte Adolf Arndt, der hat mich geärgert, weil er gesagt hat: "Ach, der Hennis, der braucht die SPD, damit er immer in sie ein- und austreten kann." Es war sicherlich nicht böse gemeint, aber mich hat es doch gekränkt, weil er überhaupt nicht spürte, wie sehr mich die Borniertheit der Sozialdemokraten in Bezug auf das, was in der Gesellschaft geschieht, krank gemacht hat. So bin ich schließlich ausgetreten.

Und später in die CDU eingetreten.

Ich war schon in Göttingen im Studium locker mit Richard von Weizsäcker befreundet. Er holte mich in eine kleine Kommission, die ein neues Parteiprogramm ausarbeiten sollte. Wir waren nur sechs oder sieben Leute, ganz hochkarätig besetzt mit Kurt Biedenkopf und Paul Mikat, und das hat großen Spaß gemacht, und als ich dann mit dem Zug nach Freiburg zurückfuhr, nachdem diese Kommissionsarbeit beendet war, dann dachte ich, das geht doch nicht, dass du in der Kommission warst, ohne in der CDU zu sein. Also bin ich in die CDU eingetreten, war sofort in den Kreisvorstand gewählt, bin einmal hingegangen in die Ortsvereinsversammlung und bin wieder ausgetreten. Das war nun doch nicht meine Welt, diese nur an der Verkehrsführung und den Ampeln interessierten Kaufleute. Nicht, dass ich was gegen die habe, aber da konnte ich mich nicht politisch engagieren.

Wie stellt sich Ihnen das Verhältnis von politischer Wissenschaft und Politik dar?

Ich bin eigentlich ein leidenschaftlicher Forscher gewesen, vielleicht sogar Gelehrter. Meine Art politischer Wissenschaft ist vielen schwer verständlich: Politik als praktische Wissenschaft. Überall läuft alles doch auf Theorie zu, ob das nun Habermas ist oder "Rational Choice" oder Funktionalismus: Immer steht am Ende einer Wissenschaft die Theorie. Aber während des Studiums in Göttingen, in der Bibliothek, da verwunderte mich, dass die ältere Staatsrechtswissenschaft dort unter "Philosophia practica" eingeordnet war, da gab es theoretica, dann gab es practica und poietica. Wieso ist das praktische Philosophie, habe ich damals noch gesagt? Und dann stieß ich in einem wunderbaren Buch von Otto Brunner, "Adeliges Landleben und europäischer Geist", auf die Lehre vom Ganzen Haus, vom landadeligen, großbäuerlichen Hof als einer autarken Einheit. Und dort auf die alte aristotelische Unterscheidung der drei Philosophien und darauf, dass eine Wissenschaft vom Handeln der Menschen selber wie das Handeln wirkt. Da war mir auf einen Schlag klar, warum mir die neuere politische Wissenschaft so zuwider war. Weil sie nicht auf Praxis zielte. Können Sie uns ein praktisches Beispiel für Ihr Interesse an praktischer Politik geben?

Als ich meine ersten Vorlesungen vorzubereiten hatte, wunderte ich mich darüber, dass in Deutschland die Verbände nicht zum Parlament laufen, sondern zur Ministerialbürokratie, die ja die Entwürfe der Gesetze machte. In der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien Teil 2, die können Sie gar nicht kaufen, da entdeckte ich dann den Satz, die Entwürfe seien den interessierten Kreisen vorzulegen. Die Realität: Die Verbände kriegen die Entwürfe der Ministerien früher zu Gesicht als die Parlamente, und die Parlamentarier müssen sich über Verbandsleute die Entwürfe geben lassen. Ich begann mich also für diese Techniken, die Ministerpräsidentenkonferenzen, die ganzen Mechanismen, die unter der Verfassungsnormierung das Getriebe des Staates bedeuteten - man nannte das Regierungslehre -, zu interessieren. Aber zunächst hatte es Sie ja erst einmal ein paar Schritte von der Forschung weggezogen in Richtung Adolf Arndt, dem Bundestagsabgeordneten und führenden Juristen der SPD.

Es war für mich eigentlich schon durch die Lektüre klar, das Öffentliche Recht gehörte ja noch bei Savigny zur Politik, und bei den dicken Folianten in der Universitätsbibliothek gehörte eben die ältere staatswissenschaftliche Literatur zur Politik, auch die juristische, nur das Privatrecht war ein juristisches Fach, das Öffentliche Recht gehörte zur Politik. Und dem galt mein Interesse, wie auch das Interesse von Smend der Staatstheorie gehörte. Nun wollte ich sehen, wie der Staat arbeitet, das Geschäft fing ja in Bonn gerade erst an, und ich bewarb mich um eine Stelle bei einem der Abgeordneten der 131 Sozialdemokraten. Dabei hatte ich von vornherein im Auge, dass Arndt über kurz oder lang juristische Hilfe brauchen würde für die vielen anstehenden Prozesse. Denn die SPD suchte ja ihre Mitwirkung an der Westeuropa-Politik auch über das gerade konstituierte Bundesverfassungsgericht zu erreichen, durch die Behauptung, viele internationale Verträge bedürften einer besonderen Zustimmungspflicht durch den Bundestag, über die einfache Mehrheit hinaus. Über diesen Hebel suchte die SPD Einfluss auf die Außenpolitik zu gewinnen. Ich war Angestellter der Fraktion, nicht von Arndt persönlich. Die Gegner von Arndt und mir waren solche Kolosse wie der große Erich Kaufmann, Generationskollege und Duzfreund von Smend, ein fabelhafter Mann, den ich zutiefst verehrt habe, der schon in der Weimerer Zeit Rechtsberater der Reichsregierung war. Ich kannte jede Zeile von ihm, und er hatte eine Theorie der "implied powers", die aus dem amerikanischen Verfassungsrecht stammt und besagt, dass der Staat gewisse Kompetenzen habe, auch die, eine Armee aufzustellen. Mit dieser Theorie glaubte er beim Bundesverfassungsgericht durchzukommen. Ich kannte den Kaufmann so genau, dass ich seitenweise Stellen hatte, die man ihm entgegenschleudern konnte.

Spielte auch die Kriegserfahrung für diese Vorstellung praktischer Wissenschaft eine Rolle?

Noch in den späten sechziger, siebziger Jahren bildete sich so etwas wie ein Generationsgefühl von denjenigen, die eben Jahrgang 1923 sind und nicht Jahrgang 1929 wie Dahrendorf und Sontheimer und Habermas als Hauptvertreter. Viele von denen mussten entnationalisiert und re-educated werden. Das mussten wir, die wir den Krieg noch richtig erlebt hatten, nicht. Wir hatten gemerkt, was für ein verbrecherisches Regime das war, selbst wenn man selber keine konkreten Kenntnisse hatte. Und ich halte es für einen ganz großen Fehler, dass der Wiederaufbau des Staates nach 1945 nicht unter der Formel einer Wiederherstellung des Verfassungs- und des Rechtsstaates erfolgte, sondern unter dem Titel "Demokratie". Meine richtig große Aufregung begann, als Willy Brandt seine berühmte Rede hielt "Wir fangen erst richtig an" und die Demokratie eben nicht als Staatsform, sondern als Lebensform für alle Lebensbereiche proklamierte. Denn wenn die Demokratie beispielsweise schon in der Schule eingeführt wird oder schon in der Vorschule durch eine neue Sitzordnung, so wird einem ja deutlich, wie sehr das den Anschauungen der Adamiten-Sekte ähnelt. Adam ist der einzige Mensch, der gleich erwachsen geboren wurde, er musste nie erzogen werden. Und so taten es auch diese neuen Adamiten.

Sind das skeptische Einwände gegen den langen Weg nach Westen?

Deutschland ist ein Kulturland, wir haben hier ungeheure Verbrechen geschehen lassen, aber das ändert nichts daran, dass wir große Traditionen haben, die wir nicht aufgeben sollten. Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel: Ich frage mich, wieso eigentlich die Bundesanstalt für Arbeit nun Bundesagentur heißen muss, das treibt mich um, ich wüsste gerne, wer dafür die Vorlage gemacht hat. Auch mein Lehrer Rudolf Smend hatte eine Abneigung gegen die "Anstalt". Dass die Rechtsform der Universität die einer "Körperschaft öffentlichen Rechts und Anstalt" war, passte ihm nicht, die Anstaltsform sollte man streichen, es sollte nur noch "Körperschaft" heißen. Aber was bleibt denn von der Universität, wenn man ihr den Veranstalter wegnimmt? Das ist doch der Staat, und es ist doch der reine Hohn, wenn jetzt in Niedersachsen die Universitäten zu Stiftungsuniversitäten deklariert werden! Der Staat geht stiften und sagt: Wir schenken euch eure Gebäude, und ihr geht mit dem Klingelbeutel rum und zeigt nun als Stiftung eure Effizienz.

Sie haben sich 1970 an der Gründung des Bundes "Freiheit der Wissenschaft" beteiligt. Dass die Professoren in dieser Form gegen die Ideologisierung der Hochschulen und die Instrumentalisierung von Wissenschaft an die Öffentlichkeit gingen, war das eine neue Form von Standespolitik?

Ein Professor ist nicht geboren, um politische Kämpfe auszufechten. Nur wenn sie ihm aufgezwungen werden durch die Situation, dann muss er dagegen kämpfen. Gegen die Nazis hätte man nicht kämpfen können. Jeder wäre sofort ersetzbar gewesen durch einen anderen. Die Kirche hat es nicht gekonnt, nur in ganz kleinen Teilen, wieso sollte die Universität als Staatsanstalt es machen? Außerdem verkennt man die Geschichte der deutschen Universität sehr, wenn man sie immer nur von Humboldt her sieht. Die deutsche Universität hat viel ältere Wurzeln, sie war anders als das englische College, das eine Erziehungsstätte für junge Männer war, in erster Linie war sie eine Ausbildungsstätte für konfessionsgemäß ausgebildete Theologen, in zweiter Linie für anständige Militärärzte und in dritter Linie für anständige Juristen, und dann gab es noch die vierte, die Philosophische Fakultät. Aus der wurde dann die Ausbildungsstätte für Gymnasiallehrer. Humboldt dagegen hieß: Denken um des Denkens willen muss möglich sein, zweckfreies Denken. Das wird heute praktisch völlig verunmöglicht. Und als der "Bund Freiheit der Wissenschaft" gegründet wurde, ging es ebenfalls um Gängelungen von außen, um die Verbreitung der Didaktik als Allzweckwaffe in Bildungsfragen. Hier wurden die Schulen als Grundlage der gesamten Bildung von der Wurzel her zerstört. Und zwar unter Mithilfe von Wissenschaft. Meinen ersten Ruf erhielt ich an die Pädagogische Hochschule in Hannover. Dort gab es einen vorzüglichen Pädagogen, Grothoff, der lehrte: Schule, Unterricht geben, das heißt "Klasse halten", für eine Stunde dreißig Zöglinge in Spannung zu halten. Zugleich aber gab es einen, der mit dieser altmodischen Pädagogik nicht einverstanden war, sondern der daraus eine Wissenschaft, eine Erziehungswissenschaft, machen wollte. Und wie macht man das? Indem man für die pädagogischen Hochschulen ein für sie spezifisches wissenschaftliches Fach entwickelt, das genauso arbeitet wie andere theoriefähige Wissenschaften auch: die allgemeine Didaktik. Die erfand damals der junge Herr Klafki, der später Professor in Marburg wurde. Ich sagte immer: die Erfindung der Didaktik aus dem Geiste der Besoldungsordnung. Denn darum ging es den meisten ja, um Mehrbesoldung durch Wissenschaftlichkeit. Dieser Stil griff dann auch auf die Wissenschaft über. Früher waren eben einige Menschen, wenn die in der Vorlesung was sagten, was man nicht verstand, dann wetzte man zur Bibliothek und schlug das nach. Es gehört ein bisschen Passion, Leidenschaft, dazu. Wenn man die nicht hat, soll man es bleibenlassen. Heute gibt es so viele, die tun keinen Schlag, bevor sie nicht ein Stipendium sicher haben, statt von sich aus loszuackern.

Gibt es so etwas wie ein Resümee Ihrer Studien und Erfahrungen?

Für mich war die Arbeit an Max Weber mein Resümee, die Frage nach seiner Fragestellung, die auf die Lebensführungsmöglichkeiten des Menschen unter den Bedingungen der modernen Welt, insbesondere des Kapitalismus, hinläuft. Und dann habe ich das Glück gehabt, eine sehr geliebte Frau zu haben, einen schönen Garten und Kinder, die einem die üblichen Kümmernisse, aber auch Freuden bereiten, so dass ich insgesamt zufrieden bin, nicht unzufrieden. Na doch, unzufrieden bin ich schon, ich bin unzufrieden mit meinem Land, mit Deutschland, und mit seinen Universitäten. Man lernte so unendlich viel in den alten Fakultäten, und heute lernen sie überhaupt nichts mehr außer Strippenziehen. Es ist einfach traurig, und so denke ich mit Trauer an die deutsche Universität zurück und mit Trauer an ein Land, das hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Ich beobachte das in Freiburg, wo wir eine Musikhochschule haben, die ist gerammelt voll von Leuten, die aus Japan, aus China, aus Korea kommen, um Bach und Beethoven, um die deutsche Musik kennenzulernen, die Romantik, das Lied als spezifisch deutsche Form. Nicht dass wir nun Romantiker werden sollten, keineswegs. Aber dass wir zu unseren eigenen Traditionen ein Verhältnis gewönnen, wie die Engländer zu Milton und Shakespeare oder die Franzosen zu Voltaire und Montaigne, das würde ich mir schon wünschen.

Die Fragen stellten Patrick Bahners und Jürgen Kaube.

Kastentext:

Der große Fehler nach 1945 war es, dass man den Wiederaufbau nicht unter der Formel der Wiederherstellung des Verfassungs- und Rechtsstaates betrieb, sondern alles auf "Demokratisierung" setzte, wobei Demokratie nicht als Staatsform aufgefasst wurde, sondern als Lebensform in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Die Erfindung der Didaktik aus dem Geist der Besoldungsordnung hat das Bildungswesen ruiniert.


Bildunterschrift: Wilhelm Hennis, dem wir heute zum fünfundachtzigsten Geburtstag gratulieren, hat wie kein zweiter Gelehrter die Bundesrepublik und ihre Regierungsepochen mit staatswissenschaftlichen und politischen Kommentaren begleitet: im Streit gegen den Missbrauch des Parlaments durch Regierungen, gegen die Atomkraft und andere Projektemachereien, gegen die Ideologisierung der Hochschulen und gegen den Irrglauben, man müsse überall nur Demokratie und Wissenschaft einführen, dann werde alles gut.

Foto Uli Reinhardt


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