Das Geheimnis des bemerkenswerten Aufstiegs Karl Mannheims.

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von David Kettler


Franz L. Neumann kommentierte 1953 die oft erstaunlich erfolgreichen Karrieren zahlreicher exilierter deutscher Intellektueller seiner eigenen Generation, indem er sowohl die „Bereitschaft von Colleges und Universitäten“ in den Vereinigten Staaten betonte, „das Risiko einzugehen, uns Arbeit anzubieten“, wie die „Freundlichkeit, mit der wir empfangen wurden, und die nahezu vollständige Abwesenheit jeglichen Ressentiments“ (Neumann 1953; cp. Kettler 2001) hervorhob. Man darf ruhig annehmen, dass Faktoren wie diese in Deutschland nahezu vollständig fehlten, um den als Exil selbststilisierten Berufsweg eines jungen Ungarn, Karl Mannheim, dessen jüdische Herkunft zudem öffentlich bekannt war, zu erleichtern, als er 1921 in Heidelberg ankam. Gegen seine Habilitation wurde innerhalb der Heidelberger Philosophischen Fakultät vehement opponiert (Demm 1999: 31-33; Kettler/Meja 1995: 90-91); und sein späterer Ruf an die Universität Frankfurt wurde vom Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung gegen den Widerstand der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät und ihres Dekans durchgesetzt (Kettler/Meja 1995: 119; Kluke 1972). Doch in einem bestimmten Sinn gilt Neumann’s Beobachtung auch für Deutschland in der Weimarer Zeit. Für einen kurzen historischen Augenblick öffnete sich an mehreren Universitäten eine Art Lücke für eine relativ kleine Gruppe von Personen – und nicht wenige von ihnen konstituierten später den Kern des von Neumann angesprochenen intellektuellen Exils. Der Fokus dieses Papiers ist Karl Mannheims Erfolgsgeschichte, und die Intention besteht darin, die ihm in der Weimar Republik gebotene Chance zu beleuchten. Die These ist, dass zwei charakteristische soziologische Themen Mannheims eine Erklärung genau dieser Chance ermöglichen: seine soziologische Betrachtungen der Generationen und der Intelligenz. Er erfuhr seinen Aufstieg eben als Angehöriger der jungen Nachkriegsgeneration sowie als Mitglied einer kulturellen Intellektuellenschicht – darunter einige Immigranten und viele Juden, aber alle Außenseiter der in den etablierten wissenschaftlichen Disziplinen dominierenden Traditionen. Die partielle und nur vorübergehende Öffnung mehrerer deutschen Universitäten für außergewöhnlich talentierte Wissenschaftler (praktisch durchweg Männer), die beide Attribute besaßen, war eine Funktion der besonderen politischen Verhältnisse der Weimarer Republik, genau wie das amerikanische Pendant (von Neumann etwas übertrieben gepriesen) durch die Franklin Delano Roosevelt-Ära geprägt war. In beiden Fällen sollten die verheißungsvollen Resultate oft als Leistungen oppositioneller Minderheiten innerhalb dieser Institutionen angesehen werden. Es gelang ihnen, herrschende Interessen angesichts der allgemeinen institutionellen Verwirrungen ihrer Zeit zu neutralisieren oder zu überwinden. Die New Deal Mobilmachung gegen die Wirtschaftskrise ist das amerikanische Beispiel, und die verschiedensten lokalen und oft unsicheren Solidaritätsgesten mit der neuen demokratischen Republik sind das deutsche Beispiel. Aber nur unversöhnte Feinde der Neuankömmlinge konnten ernsthaft die reduktionistische Auffassung vertreten, dass ihre Berufungen rein politischer Natur seien. Die Talente der wenigen, die hier und da die sich bietenden Gelegenheiten ergreifen konnten, waren absolut real, und die auf diese Weise möglich gewordenen Karrieren führten zu oft bedeutenden intellektuellen Leistungen und kulturellen Schöpfungen. Die amerikanischen und deutschen Beispiele sind mehr als bloße Parallelfälle; sie sind historisch eng verkettet. Die Selbstkonstituierung der Intellektuellengeneration Mannheims während der späten Weimarer Jahre als relative unabhängige Kraft, eine Selbstkonstituierung die unterstützt wurde von der Legitimität, die repräsentative Persönlichkeiten durch ihre Universitätsberufungen erlangten, muss uns die Behauptung Neumanns anzweifeln lassen, dass die gastfreundliche Gesinnung der amerikanischen Hochschulen, „ein tragisches Problem zu einer glücklichen Lösung brachten“. Zumindest gilt für Mannheim, dass der Verlust der vielversprechenden Erwartungen der Weimarer Generation im Exil niemals wiedergutgemacht wurde. Mannheims eigener Erfolg in seinem zweiten Exil in England ist also nicht mit einem „happy end“ identisch. Aber unser Interesse gilt hier den Weimarer Jahren. Mannheim als Repräsentant seiner Generation Die Story von Mannheims Erfolg erscheint zunächst unkompliziert. Er war in Deutschland erfolgreich, weil er eine erstaunliche Sensibilität für die existentiellen Fragen zeigte, von denen die aktivsten Denker der Zeit sich beunruhigen ließen; weil er provokative Antworten auf diese Fragen gab, die in den geistigen Auseinandersetzungen der Zeit zu unvermeidlichen Bezugspunkten wurden; und weil er es verstand, die Loyalität einer kleinen Gruppe einflussreicher Professoren zu gewinnen. Für eine auf große Persönlichkeiten fokussierte Kulturgemeinschaft, repräsentierte Mannheim das Talent und die Verheißung – und auch die Gefahr – einer ganzen Generation. Die hier vertretene Sicht von Mannheim als Repräsentant einer Generation wird allerdings von Carsten Klingemann, einem respektierten Forscher der Soziologiegeschichte, in Zweifel gezogen. Die Konfrontation mit Klingemanns Auffassung wird verdeutlichen, was wir mit dem Attribut „Repräsentant einer Generation“ intendieren, und diese Herausforderung wird, so ist wenigstens zu hoffen, ein besseres Verständnis des Zusammenspiels von sich bietenden Gelegenheiten und Qualifikationen ermöglichen. In der ersten Veröffentlichung während seines zweiten Exils in England schrieb Mannheim in der Zeitschrift der London School of Economics mit offensichtlicher Befriedigung: „Für die repräsentativeren Angehörigen der jüngeren Generation deutscher Soziologen können wir ein aktives Interesse an empirischer Forschung feststellen, obgleich ihr Empirismus ein komplizierter Begriff ist.“ (Mannheim [1934] 1953: 221). Klingemann wendet geschickt ein, dass Mannheims Anspruch, seine Generation zu repräsentieren, den eigenen Kriterien nicht gerecht werden kann (Klingemann 2000: 230-233). Er schiebt Mannheims Vorbehalt mit einer ironischen Geste beiseite, und ruft eine Reihe von Zeugen auf, angefangen mit einem nicht näher identifizierten Sachverständigen der Rockefeller Foundation im Jahr 1931 bis hin zu Dietrich Rüschemeyer (1981) fünfzig Jahre später, einschließlich Max Horkheimer ([1930] 1986) und Theodor W. Adorno ([1937] 1987), „die die empirische Sozialforschung als konstitutiv für das Programm des Instituts für Sozialforschung betrachteten“ (Klingemann 2000: 231). Alle stimmten nach Klingemann darin überein, dass Mannheims Methode alles andere als empirisch sei. Jedoch war der Empirismus der Frankfurter Schule sicherlich nicht weniger „kompliziert“ als die von Mannheim angestrebte Methode (Matthiesen 1989: 81-83). Und was die Glaubwürdigkeit der Rockefeller Foundation Beurteilung angeht, wäre es von Nutzen gewesen, hätte Klingemann darauf hingewiesen, dass seine Informationsquelle eine Warnung hinzufügt: Die Beurteilung seitens der Rockefeller Foundation darf nämlich die Überzeugung des Gutachters nicht ignorieren, dass „jede größere finanzielle Unterstützung [in Frankfurt] zum jetzigen Zeitpunkt von der deutschen öffentlichen Meinung abgelehnt würde“, obwohl „Frankfurt für die Forschung von äußerster Wichtigkeit ist“. Das Problem sei, dass „die ganze Atmosphäre international und jüdisch ist“ und dass „unter den Fakultätsmitgliedern viele Juden sind.“ (Kettler/Meja 1995: 134) Klingemanns Benennung eines kniffligen Problems wird in einer seltsam polemischen Weise formuliert, als ob er in der sicheren Distanz von 65 Jahren noch die Mission habe, die etwas ungeschickten Ansprüche eines brutal vertriebenen Forschers abzuweisen, der um Legitimation in einer fremden Sprache in einem fremden Land kämpfen musste. Mannheim sagt in seinem Aufsatz von 1934 sehr viel über das komplizierte und umstrittene Verständnis des Empirismus in seiner eigenen Generationsgruppe, sicherlich genug, um seinen Anspruch gemeinsamer empirischer Aspirationen verständlicher zu machen, und auch genug um klarzustellen, dass das Urteil der von Klingemann bemühten Zeugen weder die in dem zitierten Passus Mannheims angesprochenen methodologischen Probleme definitiv klären können, noch das im jetzigen Zusammenhang wichtigere Problem von Mannheims eigener Karriere, das uns hier primär interessiert. Robert K. Merton, dessen Reputation als Theoretiker empirischer Sozialforschung von Rüschemeyer wohl kaum in Frage gestellt wird, ist Autor der klassischen kritischen Würdigung der Mannheimschen Wissenssoziologie, vom Standpunkt der empirischen Soziologie (Merton [1941] 1957; [1945] 1957). Mertons unpolemische Deutung ist Ausgangspunkt für die Autoren, deren Charakterisierung Mannheims als „repräsentativ“ von Klingemann abgelehnt wird; auch Mertons eigene Position wird von ihnen aufgrund eines anderen Verständnisses des „komplizierten Begriffs“ von Empirie respektvoll angefochten, insbesondere hinsichtlich qualitativer Interpretation, Geschichte, und Selbstreflexion über empirische Methode im weiteren Sinne (Kettler 1967; Kettler/Meja 2001). Wo Mannheim von einer „jüngeren Generation von Soziologen“, spricht, bezieht er sich auf sein besonderes Verständnis sowohl von Generation als auch von Soziologie. In seinem Aufsatz über das Problem der Generationen weist er darauf hin, dass von einem soziologischen (im Gegensatz zum biologischen) Standpunkt eine Generation nicht eine bloße „Generationslagerung“ ist. Er unterscheidet zwischen „Generationszusammenhang“ und „Generationseinheit“. Eine Altersgruppe gilt nur dann als Generationszusammenhang, wenn ihre Mitglieder „an der selben historisch-aktuellen Problematik orientiert [sind]“, und Generationszusammenhänge werden nur dann in separate Generationseinheiten aufgegliedert, wenn sie „in jeweils verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten“ (Mannheim [1928] 1964: 544). Schon Jahre vor der Veröffentlichung seines Generationsaufsatzes war Mannheim in seinen Selbstklärungsversuchen darauf angewiesen, sich auf beiden Ebenen der Analyse in einer Generation zu situieren. In Budapest war dies vor 1919 eine Generation, deren gemeinsame Erfahrung die „Tragödie“ der bürgerlichen, liberalen, und positivistischen Kultur war, eine Generationseinheit, deren hoffnungsvolle „Mission“ es wurde, die durch diese kulturellen Krise zugänglich gemachten kritischen analytischen Werkzeuge zu perfektionieren, um auf diese Weise dialektisch eine radikale Erneuerung der menschlichen Seele zu erreichen. (Mannheim [1918] 1964; Gluck 1985; Karádi/ Vezér 1985). Jahre später spielte der Begriff Hoffnung eine Rolle in Mannheims Konstrastierung seiner eigenen Generation mit der Max Webers. Mannheim vergleicht Weber mit dem frühen deutschen Juristen Gustav Hugo (1764-1844) und findet ihn generationsmäßig in einer Mentalität des „Desillusionsrealismus“ gefangen (Mannheim [1925] 1984: 211), im Gegensatz zu seiner eigenen Generation, die, mutatis mutandis, der Generation Friedrich von Savignys vergleichbar ist, die durch die Befreiungskriege geformt war und ermutigt wurde. Diese Kriege, schreibt Mannheim, machten „aus der theoretischen Diskussion reale Diskussionen“ (Mannheim [1925] 1984: 214). Mannheim benutzt hier dieselbe Formel, die er erwartungsvoll auf die ideologische Krise der späten Weimarer Republik anwendet: durch die Wissenssoziologie können politische Resultate erreicht und kann die Gesellschaftskrise überwunden werden. Während der frühen Weimarer Jahre aber war Mannheim noch davon überzeugt, dass seine eigene Generationseinheit, die jüngere Generation der Soziologen, sowohl die Gelegenheit als auch die Mission habe, der Republik zum Erfolg zu verhelfen. Um als Soziologe zu gelten, ist es in Mannheims speziellem Sinn also nicht genug, als solcher von der Akademie zertifiziert zu werden. Mannheims Vorlesungen zwischen 1930 und 1933 identifizieren wahre Soziologen mit einer maßgebenden Generationseinheit innerhalb einer konkreten Generation. Die Generation wird konstituiert sowohl durch die gemeinsame Erfahrung einer Distanzierung von kollektiven sozialen Normen als auch durch ein Diskrepanz zwischen einerseits der oft als Ideologie deligitimierten institutionalisierten sozialen Normen und andererseits den Orientierungen, die den tatsächlichen Situationen der Jugend, der Frauen und insbesondere der Intellektuellen gerecht werden können. Diese historische Erfahrung wird zwar von einer Reihe von Generationseinheiten geteilt, aber nur die Soziologengeneration kann „diese Erlebnisse verarbeiten“, um so (1) eine Diagnose der Zeit zu entwickeln, (2) die von Faschisten und orthodoxen Marxisten auf verschiedene Weise inszenierte Reprimitivierung zu vermeiden, (3) eine für ein demokratisches Massenpublikum geeignete politische Bildung zu entwerfen, und (4) eine flexible Praxisorientierung der wichtigsten politischen Akteure zu ermutigen (Mannheim 2001: 3-22; 145-168; Cp. Kettler/ Meja 1995: 121-135; Loader/Kettler 2002: 71-107, 177-207). Die Methoden solcher Soziologen werden notwendig empirische sein, da sie kommunizierbare Beweise erbringen müssen, die über eine rein logische Kohärenz oder die ästhetische Anziehungskraft ihrer theoretischen Modelle und über intuitive Gewissheit hinausgehen. Aber empirische Methoden können auch historische oder phänomenologische Methoden sein, oder auch eine Adaptation der „amerikanischen“ Methoden, die Mannheim als mögliches Forschungswerkzeug ebenso faszinierten. Vor allem müssen Methoden es erlauben, so umfassend wie möglich mit der Macht der Ideologie abzurechnen. Mannheims Soziologen sind empirisch orientiert, da sie die real existierende Welt verstehen wollen, aber sie sind keine Empiristen. Mannheims Verfahrensweise sind die erkenntnistheoretisch begründeten Inhibitionen sowohl des frühen Positivismus als auch des logischen Positivismus fremd. Die Erkenntnistheorie kann Wissen zwar erklären, bedingt es aber nicht. Die Anwendung empirischer Methoden gleich welcher Art begrenzt nicht schon von vornherein die heranzuziehenden Variablen oder die zu stellenden Fragen. Soziologen müssen sich der weitverbreiteten Generationserfahrung profunder Unstimmigkeiten zwischen ihrer eigen Situationslage und den allgemein akzeptierten Deutungen stellen; sie müssen die zentralen Probleme der Zeit angehen und dazu die zuverlässigsten der verfügbaren empirischen Methoden anwenden. (Mannheim [1931-1932] 2001; Kettler/Meja 2006). Am 25. April 1933, nur wenige Tage vor seiner Flucht aus Deutschland, schrieb Mannheim (auf ungarisch) an seinen alten Mentor Oscar Jászi: „Es ist schlimm, daß hier ein so wüstes Durcheinander herrscht. Eine fortschrittliche Generation, die die Geschichte der deutschen Nation in eine andere Richtung hätte lenken können, war erfolgreich zusammengebracht worden. Aber es war schon zu spät.“ (Gabor 1996: 60). Mannheim spricht hier von der Generationseinheit, die er auch in seinem Aufsatz von 1934 im englischen Exil erwähnt; in England hoffte er, von einer gebildeten Öffentlichkeit als Repräsentant dieser Generation anerkannt zu werden. Und er machte sich überdies Hoffnungen, dass er jüngere Mitglieder dieser Generation für seine diagnostischen Forschungen in therapeutischer Absicht rekrutieren könne, um die durch die Machtergreifung Hitlers signalisierte Krise der Demokratie zu bewältigen. Aus dieser Initiative wurde aber nichts. Um die etwas fragile Anerkennung zu erlangen, die er in England dann tatsächlich bekam, musste Mannheim gegen Ende der Dreißiger Jahre seine Orientierung ändern. Aber diese Story ist bereits von anderen erzählt worden (Loader 1985). Mannheims Ausgangspunkt während seines zweiten Exils ist hier deshalb relevant, weil dieser Ausgangspunkt auch seine erfolgreiche Laufbahn in Deutschland erhellt, insbesondere hinsichtlich des Anspruchs, eine neue soziologische Generation zu repräsentieren, und hinsichtlich der Akzeptanz, die dieser Anspruch tatsächlich erreichte. Kritisch über Mannheim als Repräsentanten der Weimarer Soziologie nachzudenken, kann sehr instruktiv sein für ein als Locus einer progressiven Generation verstandenes intellektuelles Unternehmen wie das der Soziologie, wie sie insbesondere von Alfred Weber und Emil Lederer in Heidelberg unterstützt wurde. Mannheim als Universitätsintellektueller In einer ungarischen Exilzeitschrift warnt Mannheim seine Leser im Jahr seiner Ankunft in Heidelberg – 1921 –, dass sein Verständnis der deutschen Kultur durch seine geistige Verwandtschaft mit einer „kleinen, dünnen Schicht ... der heutigen deutschen progressiven Intellektuellen“ bestimmt sei. „Mich interessiert heute ...“ schreibt er, „in erster Linie das Leben derer, zu denen ich gehöre ... Wir ..., die wir Bücher schreiben und lesen und die beim Schreiben und Lesen einseitig nur der Geist interessiert.“ Bildung ist der Schlüsselbegriff: durch Bildung und durch genuinen Humanismus formiert sich eine neuartige Schicht von Menschen, die ökonomische und andere soziologische Klassifikationen durchquert. Bildung gestaltet auch die spontansten Lebensformen und transportiert den Menschen in eine isolierte Welt, die anderen unzugänglich ist. Als im Exil Lebender und als Fremder, der Seinesgleichen anspricht, kommt Mannheim zu dem Schluss, er sei „immer [wieder] erstaunt, um wie viel näher ich denen stehe, die an dieser Humanität beteiligt sind, und wieviel näher sie mir stehen als ich oder sie der zu ihrer Nationalität gehörenden, aber ganz anderen Menschensorte“ (Mannheim [1921] 1985: 73-75).

Mannheims reflektierendes Nachdenken über diese Schicht bleibt sein vielleicht konstantestes lebenslanges Interesse. Selbst als er sich in seinen letzten Jahren in England eher anderen Problemen zuwandte, sammelte er doch weiter Materialien – wie das Mannheim-Archiv in Keele beweist – für eine abschließende historische Arbeit zu diesem Thema. 

Der Begriff des Intellektuellen ist umstritten. Im offiziellen mitteleuropäischen Sprachgebrauch ist „Intellektueller“ mehr oder weniger identisch mit durch Universitätsbildung erreichtem oder befestigtem politischen Ansehen und sozialen Status. Mannheim betont in seinem eigenen Intellektuellenbegriff dagegen die besondere Bedeutung einer aktiven Untergruppe. Die Zentralität des Intellektuellen in Mannheims berühmtesten Buch Ideologie and Utopie ist bekannt, aber schon seine Wendung zu Alfred Weber und dessen Kultursoziologie sechs Jahre zuvor war durch reges Interesse an diesem modernen – wesentlich urbanen – sozialen Segment gekennzeichnet, das Individuen verschiedener Klassen vereinte, die durch ein gemeinsames Engagement für die Aneignung, Produktion und Reproduktion von Bildung verbunden waren – das soziale Pendant zum Aufstiegs der Kultur als autonomer Sphäre in der nachaufklärerischen Epoche. Dieser soziale Standort ist die Quelle liberaler, konservativer und anderer Ideologien, behauptet Mannheim, aber er macht auch die Kultursoziologie überhaupt erst möglich. Die rätselhafte Verbindung dieser beiden Aspekte der Bildungskultur wurde zum Hauptthema von Mannheims Habilitation über das konservative Denken und verwandter Studien (Mannheim [1922/24] 1980; Mannheim [1925] 1984). Mannheims Wahl Alfred Webers als Habilitationsvater in Heidelberg fiel in genau das Jahr, in dem Weber sich in die Forschungsarbeit über die „Not der geistigen Arbeiter“ vertiefte. Webers besonderes Interesse galt der durch die katastrophale Inflation 1920-21 hervorgerufenen wirtschaftlichen Verwüstung unter freiberuflich Tätigen, speziell der Gruppe der Intellektuellen. Weber, wie später auch Mannheim, zählte nicht alle Akademiker zu den Intellektuellen, sondern nur jene, die „kulturell produktiv“ waren, da nur sie „den eigentlichen Kern der Bildungsschicht“ bildeten. Aber zwischen Weber und Mannheim bestand ein entscheidender Unterschied, da – in den Worten Eberhard Demms – „der Geist und das Geistige“ bei Weber „oft synonym mit dem Universitätsprofessor“ ist (Demm1999: 162-163). Mannheims Ansatzpunkt ist ein anderer. Jedoch ist es die faktische Konvergenz zwischen Weber und Mannheim, die in unserer Story der springende Punkt ist. Alfred Weber war eine führende Persönlichkeit unter den relativ wenigen Gelehrten, die bereit waren, Mannheims Intellektuelle auf Universitätslaufbahnen zu befördern. Und unter denjenigen, die diese Intellektuelle in Universitätsdisziplinen verankern wollten, war Mannheim auf einzigartige Weise selbstreflexiv. Gerade eine solche Verwurzelung, glaubte er, werde es den Intellektuellen erlauben, ihrer eigentlichen Mission nachzugehen. Mannheim spricht zunächst von einer Spaltung zwischen der Welt der Universität und der distinktiven Welt der Intellektuellen. In einem eng an seine Habilitationsvorlesung anknüpfenden Aufsatz über den Sozialhistoriker Ernst Troeltsch schreibt er: „Er scheint die soziologisch bedingte geistige Spaltung im deutschen Denken der Gegenwart zwischen einem geistreichen, oft sehr tiefen freien Gelehrten- und Ästhetentum, das aber häufig in seiner äußeren und inneren Ungebundenheit ins Unkontrollierbare sich verläuft, einerseits, und einem an ein Lehramt gebundenen, den Stoff beherrschenden, aber dem lebendigen Zentrum der Gegenwart fernen Gelehrtentum andererseits in sich wieder vereinigen zu wollen.“ (Mannheim [1924] 1964: 263). Obgleich Mannheim bezweifelt, dass Troeltsch eine solche Synthese tatsächlich erreichte, ist er sich doch sicher, dass diese „an und für sich nötig ist“. Mannheim benutzt den Begriff des relativ freischwebenden Intellektuellen nicht erst in Ideologie und Utopie, wo der Sozialtypus des Intellektuellen primär auf sein Potential hin untersucht wird, mit wissenssoziologischen Methoden eine „Politik als Wissenschaft“ zu erreichen, sondern schon in seiner Arbeit über den Konservatismus, und in einem ganz anderen Ton. „Diese freischwebenden Intellektuellen“, schreibt er, „sind die typischen Rechtfertigungsdenker, ,Ideologen‘, die jedes politische Wollen, in dessen Dienst sie sich stellen, zu unter- und zu hintergründen verstehen“ (Mannheim [1925] 1984: 146). Eine solche Mentalität ist nur ein Aspekt mehrerer nachfolgender Untersuchungen Mannheims über die beunruhigende Wahlverwandtschaft zwischen bestimmten Gruppen von Intellektuellen und dem Faschismus, der am wenigsten intellektuellen aller Ideologien. Der Faschismus entsteht auch dort, wo Intellektuelle ohne Bezug auf die historisch gewachsenen sozialen Akteure der Zivilgesellschaft Macht erlangen wollen (Mannheim [1932] 1993). Um zu dem in Ideologie und Utopie beschriebenen konstruktiven Intellektuellen als wichtigstem Mitarbeiter an der notwenigen Synthese zu werden, durch die ideologisches Misstrauen in einen öffentlichen Prozess realistischer politischer Verhandlungen transformiert werden kann, müssen Intellektuelle erst einmal sich selbst entdecken, indem sie die Geisteshaltung kritisch explorieren, die immer expliziter im neuen Universitätsfach Soziologie artikuliert wird. Die Universität und insbesondere die Soziologie müssen sich umgekehrt der experimentellen Haltung der Intellektuellen öffnen, ihrer kritischen Distanz zum orthodoxen philosophischen und pädagogischen System (Mannheim [1930] 2000: 102-107). Mannheim schlägt ein gegenseitig vorteilhaftes Übereinkommen zwischen den Universitäten und den Intellektuellen vor. Seine erste, eher indirekte, Erörterung eines solchen Paktes erschien 1922, und sie steht in enger Beziehung zu seinen Verhandlungen mit Alfred Weber. Mannheim nimmt ein bereits vor Anfang des Ersten Weltkrieges eingehend diskutiertes Thema auf, das Siegfried Kracauer 1923 als den „,Wissenschaftshaß‘ des besten Teils der heutigen akademischen Jugend“ beschreibt. Er führt das Problem auf die rigide Gleichgültigkeit der ihren eigenen Impulsen folgenden fachwissenschaftlichen Universitätsdisziplinen gegenüber den Anliegen der Studenten zurück, auch in bezug auf die reichen geistigen Erfahrung, die viele von ihnen aus ihrer Voruniversitätszeit mitbrachten. Genauer: er argumentiert, dass eine dramatische Richtungsänderung der Erziehungsfunktion für eine Verjüngung der langsam verkalkenden Wissenschaften unabdingbar sei. In den Universitätsfächern muss so gelehrt werden, dass es möglich wird, auch von der Jugend zu lernen. Mannheim erzählt drei Geschichten, um das eigentliche Problem zu identifizieren, alle drei Skizzen der Erfahrungen von Studienanfängern, die mit brennenden (durch ihr Engagement mit den Bewegungen der Zeit inspirierten) Fragen an der Universität ankommen, nur um abrupt durch einen übertrieben fachbezogenen Studienplan dazu gezwungen zu werden, ihre ursprünglichen Fragen einfach zu vergessen oder sie den Fragen und Methoden ihrer jeweiligen Fächer unterzuordnen. Der erste Student kommt aus der aktiven politischen Bewegung, der zweite aus der religiös-mystischen Gemeinschaft, der dritte hat eine intime Kenntnis und Involvierung mit Kunst. Alle drei also beginnen ihre Studien nach gründlichen Erfahrungen und Einblicken. Was ihnen aber jetzt in den Sozialwissenschaften, in der Philosophie und in der Kunstgeschichte abverlangt wird, ignoriert oder geringschätzt eigentlich genau das, was sie schon mit sich bringen. Mannheim findet, dass dies ein grausame Verschwendung ist, gibt sich aber nicht mit einer bloßen romantischen Geste zugunsten der Jugend und ihrer angeblich vitalen Verbundenheit im gemeinschaftlichen Streben nach Grundwahrheiten, nach letzten Mysterien und sinnvollen Lebensaufgaben, ab. Ganz im Gegenteil: er steht nicht-wissenschaftlichen Formationen außerhalb jeder Wahrnehmung ambivalent gegenüber. Solche Ideen sind vielleicht wenig mehr als verblasste Schatten obsoleter Vorstellungen, warnt er, aber jedenfalls sind sie unvermeidlich vage und verschwommen. Außerdem ist es das Schicksal der Jugend, reifer zu werden, und somit auch Haltungen aufzugeben, die solch intensiven Bindungen adäquat sind. Es ist völlig richtig, dass die Universitäten den Studenten die Wissenschaften näher bringen, schließt Mannheim, aber die Wissenschaften müssen auch gegenüber dem Drängen der Jugend offen sein. Die Lehre sollte zur einer Regeneration wissenschaftlicher Arbeit führen (Mannheim [1922] 2004). Die Weiterentwicklung dieser Forschungsphilosophie kann schon implizit in Mannheims didaktischen Frankfurter Vorlesungen gefunden werden (Mannheim [1930] 2000; [1931-2] 2001) und wenig später, rigoroser formuliert, in Mannheims Vortrag während der Tagung reichsdeutscher Hochschuldozenten der Soziologie über „Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie“ (1932). Der springende Punkt hier ist die notwendige Verbindung von Aktualität und Kontrollierbarkeit. Dieses doppelte Kriterium verbindet die zeitgenössische Problemkonstellation, die sich von den meisten Intellektuellen zu eigen gemacht wurde, mit dem Problem adäquater empirischer Methoden der Realitätskontrolle, ohne die Forschung dabei auf ein Kompendium von im Lehrbetrieb systematisierten Fragen zu begrenzen. Dieser unvollendete Entwurf kann, neben Mannheims explizit programmatischen Überlegungen, am besten durch eine Untersuchung des Forschungsprogramms verstanden werden, das Mannheim in Frankfurt begann und das durch das gewaltsame Ende der Weimarer Epoche abrupt beendet wurde. Das von Klingemann zitierte Urteil der Rockefeller Foundation revidierte eine positive erste Reaktion auf Mannheims Forschungsantrag, in dem er unter den Hauptaktivitäten seines Soziologischen Seminars nicht nur das ambitiöse Projekt einer internationalen interdisziplinären Forschungsbibliographie über soziologische Schlüsselprobleme auflistete, sondern auch „induktive“ Untersuchungen über die „Mechanismen zur Auswahl von Führungskräften in politischen Parteien, Gewerkschaften, und der Katholischen Kirche“ sowie Studien über Frauen in der Politik, Immigrationssoziologie, und den Einfluss von Bildung auf sozialen Status (Rockefeller 1931). Im selben Jahr – 1931 – beantwortete Mannheim einen von Ferdinand Tönnies in Umlauf gebrachten Fragebogen über soziographische Forschung an seinem Soziologischen Seminar. Mannheim erwähnt in seiner Antwort u.a. eine Studie teilnehmender Beobachtung über Wahlverhalten, eine Dissertation über Weltanschauung und die Presse sowie Arbeiten über ausländische Studenten und ihre Erfahrungen als Fremde und über die Auswirkungen neuer Institutionen (einschließlich Institutionen der Erwachsenenbildung) auf die soziale Mobilität. Und schließlich erwähnt Mannheim eine vergleichende Arbeit über politische Emigrationen von Nina Rubinstein sowie eine Arbeit über Hauswirtschaft von Margarethe Freudenthal (Tönnies 1931; siehe: Honegger 1989, Rubinstein 2000; Matthiesen 1989; Kettler/Meja 1993; Kettler/ Meja 1995: 132-135). Da Mannheims Fragebogenbericht zweifellos auch von taktischen Gesichtspunkten mitbestimmt war, ist es wichtig, die von ihm inspirierten Dissertationen näher zu untersuchen. Die durch Mannheim initiierten Doktorarbeiten (mehrere von ihnen erst nach Mannheims Entlassung durch die Nationalsozialisten abgeschlossen) verstehen sich als Versuche einer soziologischen Analyse und verschmelzen Konzepte der Kultursoziologie Mannheimscher Prägung mit von Max oder Alfred Weber übernommenen Begriffselementen, die dann auf Themen moderner oder zeitgenössischer Geschichte angewendet werden. Wo geistige Produkte das Thema sind, werden sie einer „Außenbetrachtung“ statt einer „immanenten“ Interpretation unterzogen – der Fokus liegt jetzt auf ihren Genealogien und Funktionen, nicht auf den substantiellen Ansprüchen von Autoren (Mannheim [1926] 1964) – , doch in dem Maße, in dem sie ihren Gegenstand als Ideologie interpretieren, beschränken sie sich nicht länger auf die Anwendung eines restriktiven Modells des ideologischen Feldes und seiner gesellschaftlichen Korrelationen, wie sie von Mannheim in Ideologie und Utopie entwickelt werden. Sie akzeptieren zwar Mannheims kritische Fragen, aber nach Antworten suchen sie in den Forschungsresultaten. Wilhelm Carlé (1931) zum Beispiel korrigiert in seiner Dissertation eine auffällige Unterlassungssünde Mannheims, indem er das zeitgenössische ideologische Feld auf protestantisch-nationalistische und katholisch-konservative Verhaltensmuster ausweitet und zwei Ereignisse in zehn Zeitungen verfolgt und qualitativ auswertet, um ideologische Differenzen in der Berichterstattung auszumachen: den politischen Mord an Walther Rathenau und einen Sexmordskandal unter Jugendlichen. Carlé versucht dann, die entdeckten ideologischen Differenzen mit den unterschiedlichen Weltanschauungen des jeweiligen Zeitungsklientels zu korrelieren. In Käthe Truhels Arbeit über die Beziehungen zwischen (weiblichen) Sozialarbeitern und (männlichen) Bürokraten (1934; Kettler 2007) werden die praxisorientierten Perspektiven der Frauen auf ähnliche Weise durch neuartige ideologische Konstrukte erläutert – in diesem Fall feministische, aber auch katholisch-soziale Modelle mütterlicher Vorsorge –, die Mannheim selbst nicht in Betracht gezogen hatte. Truhel verbindet darüber hinaus Spaltungen im Lager des bürokratischen Konservativismus mit bestimmten, in Mannheims eher idealtypischer Vorgehensweise nicht antizipierten Funktionsneuerungen. Jacob Katz (1935; Kettler/Meja 2004) beschäftigt sich mit der beispiellosen Ideologie der ersten assimilierten Juden; Nina Rubinstein ([1933] 2000; Kettler 2003) untersucht die ideologische Sprache politischer Emigranten nach der Französischen Revolution; Natalie Halperin (1935) analysiert das Genre weiblicher Literatur im 18. Jahrhundert; und Margarethe Freudenthal ([1934] 1986) bietet eine vergleichende Studie der Hauswirtschaft, in der sie historischen Differenzen und Klassenunterschieden im Verständnis weiblicher Rollen nachgeht. Nur Mannheims treuester Schüler, Hans Gerth, versucht sich auf Mannheims eigenem Gebiet mit einer Studie über den Liberalismus ([1935] 1976), die sich an Mannheims Habilitationsschrift über den Konservatismus anlehnt. Wie auch die Arbeiten einiger der anderen Studenten, nahm die Studie von Gerth in Mannheims Liberalismusseminar ihren Anfang, das er zusammen mit mehreren Kollegen abhielt, unter ihnen auch Paul Tillich und Adolph Löwe (Kettler/Meja 2004: 331-332, 337). Diese außerlehrplanmäßige ad hoc „Arbeitsgruppe“ zog auch fortgeschrittene Studenten wie Hannah Arendt und Günther Stern (später bekannt als Günther Anders) an und war eine Art institutioneller Ausdruck der Vereinigung von Aktualität and Kontrollierbarkeit, die auch für die Arbeiten charakteristisch sind, die Unstimmigkeiten zwischen den vorherrschenden Mythen über das Zeitungswesen oder über den Status der Frau zum Thema haben. Löwe and Tillich gehörten zu Mannheims engsten Mitstreitern in den intellektuellen Diskussionen, z. B. hinsichtlich Fragen der Religion – Probleme die Mannheim in seiner fachwissenschaftlichen Arbeit systematisch ausklammerte. Trotz des historischen Themas der „Arbeitsgruppe“ über den „frühen Liberalismus“ akzeptierte sie jedoch zweifellos auch Mannheims übergreifendes Projekt, die große Lücke zwischen den Dringlichkeiten des geistigen Lebens – von denen Studenten und Lehrer gleichermaßen motiviert sind – und den Ressourcen wissenschaftlichen Arbeitens zu schließen. Der springende Punkt bleibt durchweg die Wechselwirkung zwischen den für die beiden antagonistischen Typen charakteristischen Arten des Denkens, also ihre Komplementarität. Die Synthese erreicht keine Verschmelzung von Intellektuellen und Wissenschaftlern an der Universität – oder auch innerhalb eines innerlich komplexen Menschen, der in beiden Welten gleichzeitig lebt –, sondern sie ist eine Art Verhandlungsstruktur, die sowohl durch Distanz als auch Zusammenarbeit ausgezeichnet ist. Genau darauf hatten sich Alfred Weber and Karl Mannheim geeinigt, als sie sich auf eine Handlungsweise festlegten, die dann die Universität für Mannheim zugänglich machte und zur Grundlage seines erstaunlichen Aufstiegs in ihr wurde. Webers eigene, sicherlich komplexe Motivationen waren fest in seiner Abneigung gegen den moribunden akademischen mandarinischen Stil verankert und in seiner Offenheit gegenüber neuen Anfängen in der deutschen Politik, ganz abgesehen von seinen Sympathien für lebendige und mutige Köpfe. Webers Strategie am Heidelberger sozialwissenschaftlichen Institut ist das Thema zwei neuer wichtiger Studien und braucht in diesem kurzen Aufsatz schon deshalb nicht behandelt zu werden. Ein kurzer skizzenhafter Vergleich Max und Alfred Webers soll deshalb hier genügen. Max Weber fühlte sich genau wie sein Bruder Alfred zu Intellektuellen hingezogen, und der von Marianne Weber geleitete Kreis war Zufluchtsort kühnen Denkens und aufregender Denker. Aber als Georg Lukács, ein brillantes und viel gepriesenes Mitglied dieser Gruppe, Max Weber um Unterstützung bei seinen Habilitationsplänen ersuchte, verlangte Weber ohne Umschweife, Lukács müsse damit aufhören, Essays zu schreiben. Er solle sich stattdessen an eine rigorose wissenschaftliche Abhandlung machen. Als Mannheim sechs Jahre später sein eigenes Habilitationsersuchen an Alfred Weber richtete –mit dem er bald auch durch seine frühere enge Bekanntschaft mit Lukács eine ungezwungene Vertrautheit hatte und kurz nachdem auch er auf ähnliche Weise wie Lukács als Habilitant von Heinrich Rickert abgelehnt worden war –, hatte Weber zwar einige Zweifel über Mannheims grandiose Ambitionen und seine eher lockere wissenschaftliche Verfahrensweise, aber er machte sofort klar, Mannheim dürfe seine noch ungeschriebene Arbeit als bereits akzeptiert ansehen, da er ja schließlich ein reifer Mann sei, der ganz klar wisse, was er tue. Alfred Weber hatte eine genuine Vorliebe für Verschiedenheit und dazu den Instinkt eines institutionsaufbauenden amerikanischen Dekans, nicht den eines schulebauenden Professors. Er erkannte Qualität und war bereit, mit den damit verbundenen unvermeidlichen Problemen und Konflikten zurecht zu kommen. Peter Nettl schreibt 1970 von der Institutionalisierung von „Dissensstrukturen“ in den Beziehungen zwischen Intellektuellen und Wissenschaftlern. Wie schon Mannheim konzentriert er sich auf die oft fundamental verschiedenen Wege und Objekte des Denkens, auf die Wechselbeziehungen zwischen ihnen und auf die Spannungen, die ihre Koexistenz innerhalb der disziplinären Strukturen und an den Universitäten gewöhnlich hervorrufen. Mannheim sprach von Skepsis und Distanz statt von Dissens, aber Nettls Begriff erklärt etwas Entscheidendes: die reflexive Überprüfung der schematischen Wissenschaften ist selbst schon eine Art Dissens und produziert starke und oft kollidierende Reaktionen. Und Dissidenten sind bekanntermaßen auch unter sich notorisch streitsüchtig, selbst wenn sie nicht gerade an einer furchtbaren Niederlage und deren Nachwirkungen leiden. Mannheim war zwar ein Star des Weimarer Gesellschaftsdenkens, aber er war auch kontrovers und er wurde bekämpft. Aber konnte die Generation der Weimarer Intellektuellen überhaupt anders repräsentiert werden? Bibliographie Adorno, Theodor W. [1937] 1986. Neue wertfreie Soziologie. Aus Anlaß von Karl Mannheims „Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus“ (1937), in Theodor Adorno, Vermischte Schriften I (Gesammelte Schriften 20/1). Frankfurt/M: Suhrkamp, 13-45. Blomert, Reinhardt. 1999. Intellektuelle im Aufbruch. München-Wien: Hanser. Carlé, Wilhelm. 1931.Weltanschauung und Presse. Eine soziologische Untersuchung. Leipzig: C. L. Hirschfeld. Demm, Eberhard. 1999. Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Düsseldorf: Droste. Freudenthal, Margarete. [1934] 1986. 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