Der Soziologe Franz Oppenheimer

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Klaus Lichtblau

Der Soziologe Franz Oppenheimer. Vortrag anlässlich der akademischen Feier zu Ehren von Franz Oppenheimer am 21. Mai 2007 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main


I.

Wenn wir uns heute hier versammeln, um Franz Oppenheimer anlässlich der Beisetzung seiner Urne im Frankfurter Südfriedhof zu gedenken, so tun wir dies nicht nur im Bewusstsein, ein Stück Wiedergutmachung gegenüber einem von den Zeitläufen des 20. Jahrhunderts höchst negativ betroffenen deutschen Gelehrten jüdischer Abstammung zu leisten, sondern auch im Bewusstsein, in der Gestalt Franz Oppenheimers eine Person zu ehren, der 1919 die erste ordentliche Professur für Soziologie an einer deutschen Universität zuerkannt worden ist. Daß dies an der aus der ehemaligen Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften hervorgegangenen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt der Fall war, ist ebenso wenig ein Zufall wie der Tatbestand, dass Oppenheimer selbst es war, der ausdrücklich darum gebeten hatte, ihn im Rahmen seiner neuen Frankfurter Wirkungsstätte nicht nur mit einem soziologischen, sondern auch mit einem wirtschaftswissenschaftlichen Lehrauftrag zu versehen. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass erst mit der Berufung des einstmals jugendbewegten und sich später als Repräsentant der konservativen Revolution profilierenden Philosophen und Soziologen Hans Freyer an die Universität Leipzig im Jahre 1925 erstmals ein Lehrstuhl eingerichtet worden ist, dessen Widmung ausschließlich die soziologische Forschung und Lehre zum Gegenstand hatte.

Dies bedeutet nicht, dass ich mit diesem Hinweis die Bedeutung von Franz Oppenheimer als dem ersten ordentlichen Professor für Soziologie an der Universität Frankfurt relativieren möchte, an der er immerhin zehn Jahre gewirkt hat, bevor er 1929 auf eigenem Wunsch im Alter von 65 Jahren in den Ruhestand versetzt worden ist, obgleich es ihm durchaus möglich gewesen wäre, noch mindestens weitere drei „Gnadenjahre“ seine Professur in Frankfurt wahrzunehmen (254), wovon dann übrigens kein Geringerer als Karl Mannheim profitierte, der 1930 die Nachfolge von Oppenheimer in Frankfurt antrat und bereits 1933 aufgrund seiner ebenfalls jüdischen Herkunft zum Rücktritt von seinem Amt gezwungen wurde. Sondern dies geschieht in der Absicht, um auf den Umstand hinzuweisen, dass zumindest im deutschsprachigen Raum die nationalökonomische und die sozialwissenschaftliche Forschung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowohl institutionell als auch personell untrennbar miteinander verbunden waren.

Dies erklärt im übrigen auch, warum eines der führenden theoretischen Organe der deutschen Nationalökonomie seit 1904 den Titel „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ trug. Und dies erklärt auch, warum die ersten deutschen Soziologen zu dieser Zeit noch keinen selbständigen Lehrauftrag für Soziologie erteilt bekamen, sondern entweder wie im Falle von Ferdinand Tönnies in Kiel eine Professur für wirtschaftliche Staatswissenschaften innehatten oder wie im Falle von Werner Sombart und Max Weber ohnehin ihre berufliche Laufbahn als Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler begannen, bevor auch sie sich zunehmend der soziologischen Forschung und Lehre zuwandten. Als Max Weber 1919 die Nachfolge von Lujo Brentano an der Universität München antrat, war übrigens er es selbst, der darum bat, seinen wirtschaftswissenschaftlichen Lehrauftrag um einen entsprechenden gesellschaftswissenschaftlichen bzw. soziologischen Lehrauftrag zu erweitern. Dies war zu Beginn der Weimarer Republik keine Selbstverständlichkeit, weil die Soziologie als relativ spät gegründete Disziplin immer noch um ihre akademische Reputation kämpfen musste, bevor dann im Laufe der zwanziger Jahre vom damaligen preußischen Kultusminister Becker die Einrichtung von soziologischen Lehrstühlen an verschiedenen deutschen Universitäten aus politischen Motiven unterstützt und betrieben worden ist.

Insofern war die Einrichtung eines Lehrstuhls für „Theoretische Nationalökonomie und Soziologie“ an der Universität Frankfurt im Jahre 1919 durchaus ein Glücks- und Sonderfall, der sich aus der Tradition der Universität Frankfurt als einer bürgerlichen Stiftungsuniversität erklärt und der sich im Falle der Berufung von Franz Oppenheimer einem von dem Konsul Kotzenberg finanzierten soziologischen Stiftungslehrstuhl verdankt. Wenn Oppenheimer also darum bat, im Rahmen dieser Professur auch weiterhin Vorlesungen über theoretische Nationalökonomie und über die Geschichte der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Lehrmeinungen halten zu dürfen, wie er dies bereits seit 1909 als Privatdozent und seit 1917 auch als Titularprofessor an der Berliner Universität so außerordentlich erfolgreich getan hatte, so erklärt sich dies also zum einen durch den starken Einfluß, den die historische Schule der Nationalökonomie auf die deutsche Soziologie um die Jahrhundertwende ausübte, für welche die Einbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft und die Einbettung der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschung innerhalb einer interdisziplinär verfahrende „Sozialökonomik“ noch eine Selbstverständlichkeit war.

Diese Erweiterung seines soziologischen Lehrauftrages um entsprechende wirtschaftswissenschaftliche Bestandteile geschah aber wohl auch, um seinen Widersachern in der Frankfurter WiSo-Fakultät, die ursprünglich den Leipziger Professor für Philosophie und Pädagogik Paul Barth den Vorzug gaben und diesen deshalb auf den ersten Platz, Oppenheimer dagegen auf Platz zwei der Berufungsliste gesetzt hatten, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Selbst Max Weber meinte anlässlich der Übernahme seiner Münchner Professur im Jahre 1919 immer noch hervorheben zu müssen, dass die Soziologie der „Tummelplatz der Halbwissenschaft“ sei, die vornehmlich von „geistreichen Philosophen“ in prekärer beruflicher Stellung, mithin also von zumindest in professionspolitischer Hinsicht „gescheiterten Existenzen“ betrieben würde, weshalb es darum ging, die Soziologie nun endlich in einem streng wissenschaftlichen Sinn akademisch zu betreiben.

Ein weiteres, in diesem Fall also ein ökonomisches Standbein konnte so durchaus den Vorwurf entkräften, selbst einer intellektuellen Demi-Monde anzugehören, der es zumindest im zweiten deutschen Kaiserreich noch nicht vergönnt war, auf ordentliche Lehrstühle berufen zu werden. Insofern stellte die von Kotzenberg gestiftete und auf dessen Wunsch für Franz Oppenheimer vorgesehene neue Frankfurter Professur also durchaus einen wissenschaftsgeschichtlichen Meilenstein dar, der nicht nur in Frankfurt bleibende Spuren hinterlassen hat.

Universitätsgeschichtlich nicht ganz uninteressant ist ferner der Umstand, dass sich auch die Berufung Karl Mannheims an die Universität Frankfurt nicht der dafür zuständigen Berufungskommission verdankt, die Karl Mannheim ebenfalls nur als zweite Wahl ansah, sondern auf Betreiben des damaligen Kurators der Frankfurter Universität Kurt Riezler zustande kam, der dafür sorgte, dass sich sachliche Gesichtspunkte gegenüber Gruppeninteressen durchsetzen konnten. Auch diese Art der Berufungspolitik scheint also eine Frankfurter Tradition zu sein, die sich an dieser Universität zumindest in den höher gestellten Kreisen bis heute einer gewissen Beliebtheit erfreut, die vielleicht nicht immer, doch immerhin in zahlreichen Fällen zu Ergebnissen geführt hat, die nachträglich zu bestreiten keinem der davon positiv oder negativ Betroffenen jemals in den Sinn gekommen wäre.

Franz Oppenheimer ist übrigens der Wechsel von der Spree an den Main durchaus schwer gefallen. Dies lag nicht nur an dem bereits damals zumindest im Sommer unerträglichen Frankfurter Klima mit seiner feucht-warmen Luft, die fast schon an tropische Verhältnisse erinnert und auf die Oppenheimer in seinen „Lebenserinnerungen“ zwei ernsthafte grippale Erkrankungen mit „sehr unangenehmen Nebenwirkungen“ sowie seine chronische Bronchitis zurückführte, die er sich in Frankfurt zugezogen hatte (S. 253) – wie wäre es Oppenheimer eigentlich ergangen, wenn er wie seine heutigen akademischen Enkel in dem berühmt-berüchtigten „Universitätsturm“ hätte arbeiten müssen? Oppenheimers ambivalente Gefühle gegenüber dem neuen Wirkungsradius, die im Laufe der Zeit offensichtlich nicht verschwanden, sondern seine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand mit motiviert hatten, verdankte sich darüber hinaus auch dem Umstand, dass er in Berlin ähnlich wie sein dortiger Kollege Georg Simmel ein außerordentlich erfolgreicher akademischer Lehrer mit großer Zuhörerschaft war, dem die damals noch übliche Institution des Kolleggeldes eine standesgemäße Lebensführung ermöglichte, um die ihn manch „ordentlicher“ Berliner Professor beneidete und die Oppenheimer offensichtlich durch den Wechsel nach Frankfurt trotz der anstehenden Verbeamtung als gefährdet ansah.

Tatsächlich gelang es ihm im Unterschied zu seiner Berliner Zeit und im Unterschied zu seinem Nachfolger Karl Mannheim in Frankfurt nicht, einen größeren Schülerkreis um sich zu binden, was besonders hervorzuhebende individuelle Schülerschaften wie die des später als „Vater der sozialen Marktwirtschaft“ bekannt gewordenen deutschen Bundeskanzlers Ludwig Erhard natürlich nicht ausschließt. So klagte Oppenheimer noch in seinen 1930 geschriebenen und erstmals 1931 veröffentlichten „Lebenserinnerungen“ darüber, dass die angehenden Diplomvolkswirte, aus denen sich vorwiegend seine Zuhörerschaft rekrutierte, „derart mit Pflichtvorlesungen überlastet“ gewesen seien, dass für das Studium des von ihm vertretenen Hauptfaches – nämlich der Soziologie – „nur sehr wenigen die Zeit und die Kraft übrigblieben“. Oppenheimer fuhr in diesem Zusammenhang fort:

„Ich las eine meiner schönsten Vorlesungen, über den ‚Staat’, im Wintersemester 1927 vor einem Auditorium von nur etwa dreißig bis vierzig Hörern, von denen noch dazu die meisten nicht meiner Fakultät angehörten. Man versteht, dass einem Dozenten, der wie ich gewöhnt war, vor sehr großen Hörerschaften zu sprechen, dabei die Lust am Leben nicht gerade gesteigert wurde“ (253).

Insofern erging es Oppenheimer in seiner Frankfurter Zeit nicht sehr viel besser als Georg Simmel, der 1914 an die damals reichsdeutsche Universität Straßburg berufen wurde und sich dort bis zu seinem Tod im Jahre 1918 im Unterschied zu seiner Berliner Zeit nicht gerade über volle Hörsäle beklagen konnte. Waren es bei Simmel jedoch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die sich durch die deutsche Besetzung des Elsasses verstärkenden deutsch-französischen Verständigungsschwierigkeiten, die damals in Straßburg einen geordneten akademischen Unterricht unmöglich machten, so führte Oppenheimer seinen mangelnden akademischen Lehrerfolg in Frankfurt zum einen auf die im Vergleich zu Berlin eher bescheidene Größe von Goethes Geburtsstadt zurück, die bei Oppenheimer das Gefühl wachrief, es im Vergleich mit der Reichshauptstadt eher mit beengten, fast schon an die „Provinz“ erinnernden Verhältnissen zu tun zu haben. Zum anderen machte er als Grund für die schwache Resonanz seiner Frankfurter Lehrtätigkeit aber auch den Umstand geltend, dass die Herkunft der dortigen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät aus einer ehemaligen Handelshochschule dieser zugleich die Aufgabe übertragen hatte, vornehmlich betriebswirtschaftlich orientierte Berufspraktiker für das Wirtschaftsleben auszubilden, die auch in der Folgezeit nicht gerade durch ein ausgesprochenes Interesse an anspruchsvollen akademischen Fragestellungen aufgefallen sind. Insofern versteht man, wenn Oppenheimer in seinen „Lebenserinnerungen“ von sich sagt, dass er mit seiner „Eigenart als ausgesprochener Theoretiker und Universalist“ nicht recht dorthin passte (252).

Immerhin hat Franz Oppenheimer mit seiner theoretischen und universalistischen Orientierung eine soziologische Tradition begründet, die vermittelt über die spätere Frankfurter Lehrtätigkeit von Karl Mannheim und die Rückkehr von zentralen Repräsentanten der „Kritischen Theorie“ aus dem US-amerikanischen Exil nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu zum Markenzeichen der „Frankfurter Schule“ werden sollte und die bekanntlich durch eine ausgesprochen theoretisch-philosophische Ausrichtung gekennzeichnet ist. In dieser Hinsicht gehört Franz Oppenheimer nicht nur unzweideutig zu dieser Frankfurter Tradition der Sozialwissenschaften, sondern er muß in gewisser Weise auch als ihr Begründer angesehen werden, auch wenn er im Unterschied zu Karl Mannheim oder Max Horkheimer und Theodor W. Adorno keine „Schule“ im eigentlichen Sinne des Wortes gegründet hat!


II.

Um sich die Eigenart des intellektuellen Kosmos zu vergegenwärtigen, in dem Franz Oppenheimer gelebt hat und den er in so beeindruckender Weise weiterentwickelt hat, muß man bedenken, dass er ein Verständnis von Soziologie besaß, das sich noch an den großen enzyklopädischen und universalistischen Systemen eines Auguste Comte und Herbert Spencer orientierte. Für ehedem „linke“ Sozialwissenschaftler war damit bereits eo ipso vorentschieden, dass Oppenheimer mithin der „positivistischen“ Wissenschaftstradition zuzurechnen sei, was in Frankfurt zumindest in den „ideologiekritisch“ bewegten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts gleichsam einer Exkommunion aus dem Kreis der ernst zu nehmenden Repräsentanten des gehobenen Diskurses gleichkam. Oppenheimers Werk hat dieses Schicksal jedoch nicht explizit erfahren. Dies geschah vermutlich deshalb nicht, weil er jüdischer Herkunft und politisch ein Vertreter eines „liberalen Sozialismus“ sowie der Siedlungsbewegung in Palästina war. Dafür ist seinem Werk etwas anderes widerfahren, was nicht weniger schlimm als eine fragwürdige „ideologiekritische“ Denunziation ist: Man hat es nämlich im Laufe der Zeit nicht nur in Frankfurt schlichtweg vergessen! Oppenheimers Werk teilt dieses Schicksal mit dem vieler anderer Vertreter der Soziologie des 19. und 20. Jahrhunderts, was nicht gerade für eine ausgeprägte „Erinnerungskultur“ dieses Faches spricht.

Wenn wir uns heute hier versammeln, um auch der soziologischen Bedeutung von Franz Oppenheimers Werk Rechnung zu tragen, so sind es in erster Linie zwei bleibende Verdienste, die ihm zuzusprechen sind: Erstens hat er ein theoretisches System entwickelt, in dem die Wirtschaftswissenschaften noch einen integralen Bestandteil einer „allgemeinen Soziologie“ gebildet haben, die damit zugleich einen universalistischen Anspruch auf Höchstrelevanz gestellt hatte, von dem die anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen naturgemäß nicht gerade begeistert waren. Die damit provozierte „Soziologenschelte“ hat sich im Laufe des 20. Jahrhundert übrigens mehrmals wiederholt wie zum Beispiel anlässlich des Erscheinens von Karl Mannheims bahnbrechendem Buch über „Ideologie und Utopie“ im Jahre 1929, dem kein Geringerer als Ernst Robert Curtius vorwarf, die traditionellen Geisteswissenschaften durch eine soziologische Ideengeschichte ersetzen zu wollen. Und als zweites Verdienst von Franz Oppenheimer muß angesehen werden, dass das von ihm in seiner Frankfurter Zeit entwickelte „System der Soziologie“ zugleich universalgeschichtlich ausgerichtet war. D.h. es versuchte, „statische“ und „dynamische“ bzw. „kinetische“ Aspekte der Gesellschaftsstruktur aufeinander zu beziehen und im Rahmen einer Theorie der Gesellschaftsentwicklung systematisch miteinander zu verbinden.

Hinsichtlich seines universalistische Züge tragenden Theorieprogramms ist ihm die fachgeschichtliche Entwicklung innerhalb des 20. Jahrhunderts nicht gefolgt. Denn heute haben sich die Wirtschafts- und die Sozialwissenschaften zu eigenständigen akademischen Disziplinen verselbständigt, was gelegentliche imperialistische Einnahme- bzw. „Einbettungs“-Versuche von der einen oder der anderen Seite natürlich nicht ausschließt. Tatsächlich bin ich wie Franz Oppenheimer allerdings der Meinung, dass beide Disziplinen gute Gründe haben, sich über ihre gemeinsamen Grundlagen Rechenschaft abzulegen, die ja nicht nur von wissenschaftsgeschichtlicher Art sind. Das Vordringen der „ökonomischen“ Methode in den Sozialwissenschaften sowie der beeindruckende internationale Erfolg der „neuen Wirtschaftssoziologie“ zeigen ja zu Genüge, dass es nach wie vor entsprechende sachliche und methodische Überschneidungen zwischen den beiden Disziplinen gibt.

In der zweiten Hinsicht sind es nicht nur die Bezüge zwischen dem Oppenheimerschen Werk und den älteren enzyklopädischen Richtungen der europäischen Soziologie des 19. Jahrhunderts, sondern auch vorwärtsweisende Gedankengänge, die sein Werk als attraktiv erscheinen lassen und die dann in den sozialwissenschaftlichen Systementwürfen von Talcott Parsons und Niklas Luhmanns ihren produktiven wirkungsgeschichtlichen Niederschlag gefunden haben. Denn wenn man sich fragt, welche Richtung der modernen Soziologie die größte Ähnlichkeit mit dem soziologischen Werk Franz Oppenheimers hat, dann ist es nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen universalistischen Aspirationen die von Talcott Parsons und Niklas Luhmann vertretene moderne Variante der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie.

In einer Hinsicht ist allerdings kein Soziologe von Rang den Oppenheimerschen Vorgaben gefolgt, auch wenn es im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder Versuche – z.B. die des US-amerikanischen Soziologen George Caspar Homans – gegeben hat, soziale Entwicklungen auf elementare psychologische Gesetze zurückzuführen: Ich meine dabei die zu Recht in der Sekundärliteratur problematisierte Verankerung seines Systems der Soziologie im Rahmen einer sogenannten „Trieblehre“. In dieser Hinsicht ist Oppenheimer ganz Kind seiner Zeit – man denke etwa an das Werk von Max Scheler, der ebenfalls 1919 damit begann, die Soziologie im Rahmen einer sozialphilosophischen Professur an der Universität Köln zu lehren und dessen Berufung nach Köln sich keinem Geringerem als dem damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer verdankte. Scheler, der 1928 ebenfalls an die Universität Frankfurt berufen worden ist, aufgrund seines frühen Todes aber nicht mehr seine Lehrtätigkeit in Frankfurt aufnehmen konnte, versuchte nämlich ebenfalls, die von ihm begründete Richtung der Kultur- und Wissenssoziologie im Rahmen einer Trieblehre zu verankern und ist damit ebenfalls grandios gescheitert

Auch Oppenheimer hatte in seinem in seiner Frankfurter Zeit begonnenen und 1935 zu einem Abschluß gebrachten „System der Soziologie“ das interdisziplinäre Konzept einer „Universalsoziologie“ entwickelt, in dem nicht nur die Soziologie und die Nationalökonomie, sondern auch die Geschichtswissenschaft, die Ethik, die Sozialphilosophie und die Psychologie miteinbezogen worden sind. Im dritten Band dieses „Systems“ traf er dabei folgende charakteristische Unterscheidung:

„Die theoretische Ökonomik ist (...) ein Teil der Soziologie, die wir kurz als die Lehre vom menschlichen Betragen oder Verhalten oder, weil dieses Verhalten eine Entwicklung aufweist, als die Lehre vom sozialen Prozeß definieren wollen. Verhalten ist Handeln (oder Unterlassen); das heißt: ein Tun oder Nichttun aus Motiven zu Zwecken. Mit Motiven und Zwecken hat die Psychologie zu tun, folglich grenzt jede soziologische Sonderwissenschaft, also auch die Ökonomik an die Psychologie, aus der sie ihre Voraussetzungen zu entnehmen hat. Wenn die Psychologie die erkenntnismäßige Grundlage, sozusagen den Unterstock der Soziologie bildet, so stellt die Sozialphilosophie ihren Oberstock, ihr Dach oder ihre Kuppel dar. Das heißt, die Soziologie hat ihre Ziele und Wertsetzungen an der praktischen Philosophie zu rechtfertigen.“

Und weiter führte Oppenheimer aus, um auf die dienende Funktion aufmerksam zu machen, die er der Wirtschaft zugewiesen hatte:

„Die Wissenschaften vom Recht und vom Staat. von der Kunst und der Religion haben es mit menschlichen Zielen zu tun. Hier nimmt die theoretische Ökonomik eine eigentümliche Ausnahmestellung ein: sie hat nicht mit Zielen zu tun, sondern nur mit Mitteln. Die Ökonomik ist ein dienendes System, ein ‚System von Mitteln’ (...), ihr werden die Ziele von außen her bestimmt, sie nimmt sie als gegeben und hat nichts weiter zu tun, als den besten Weg zu ihnen zu weisen.“ (III/1, S. 9; vgl. Vogt, S. 95 f.).

Diese an die Transzendentalphilosophie von Immanuel Kant erinnernde Unterscheidung zwischen dem “Reich der Mittel” und dem “Reich der Zwecke” hatte zumindest für Oppenheimer die Konsequenz, dass die theoretische Nationalökonomie nur innerhalb eines umfassenderen wissenschaftlichen Systems ihre Daseinsberechtigung hatte, das ihr zugleich die entsprechenden „Ziele“ und „Zwecke“ vorgab. Dieses System war dabei wie gesagt ein soziologisches, welches allerdings seinerseits auf elementaren psychologischen Annahmen bezüglich der Beschaffenheit der menschlichen Triebnatur beruhte.

Oppenheimer unterschied in diesem Zusammenhang zwischen „finalen“ und „modalen“ Trieben, wobei er zu den finalen, auf einen Sättigungs- und Gleichgewichtszustand ausgerichteten Trieben unter anderem den Trieb nach „Selbsterhaltung“ und nach „sozialer Hochgeltung“ zählte. Die sogenannten modalen Triebe wie der „Machttrieb“,, der „Erwerbstrieb“ und der „Trieb der Rivalität“ zielten demgegenüber nicht auf einen Zustand der Sättigung ab, „sondern auf eine Art der Handlung, und zwar auf eine Handlung, die einem finalen Triebe den Weg, das Mittel, zu seinem Endziele, seiner Sättigung vorschreibt“ (I/1, S. 281). Die modalen Triebe folgen dabei seiner Ansicht nach dem „Prinzip des kleinsten Mittels“, also einem ökonomischen Prinzip, das in der nationalökonomischen Literatur seit alters her als Knappheitsprinzip bekannt ist. Sie lassen sich aber ihm zufolge nicht auf rein zweckrationale bzw. strategische Gesichtspunkte reduzieren, sondern sind in seinen Augen zugleich die Scharniere, vermittels denen moralische, sittliche und rechtliche Normen bzw. Imperative handlungswirksam werden bzw. eine „sozialpsychologische Determination“ bewerkstelligen. Nur vermittels solcher Determinationen ist es Oppenheimer zufolge erklärlich, dass die Gesellschaft nicht in eine Welt von Egoisten auseinander bricht, sondern ihrerseits als eine „Gruppe“ bzw. als ein Aggregat von verschiedenen sozialen Gruppen auf Dauer Bestand hat.

Oppenheimer zufolge gibt es in diesem Zusammenhang auch einen „Trieb der Reziprozität“ bzw. einen „kategorischen Imperativ der Reziprozität“, der in all jenen Gesellschaften einen gesamtgesellschaftlichen Konsensus bewirkt, die noch nicht durch von außen gewaltsam eindringende kriegerische Horden hierarchisiert und durch entsprechende Monopolstellungen bei der Landverteilung und der Verteilung des erwirtschafteten gesellschaftlichen Reichtums staatlich bzw. herrschaftlich stratifiziert worden sind. Er ging in diesem Zusammenhang von der Annahme aus, dass es einen Trend der einzelnen Gesellschaften hin zu einem Gleichgewichtszustand gibt, der letztlich auf konsensueller Grundlage beruht, weil er in dem menschlichen Bedürfnis nach Anerkennung und nach Wechselseitigkeit verankert ist. Gestört werden solche idealerweise in der freien Marktwirtschaft zum Ausdruck kommenden Gleichgewichtszustände seiner Ansicht nach nicht von „innen“, sondern von „außen“, d.h. durch das Eindringen von fremden Gruppen und Gesellschaften in ein gegebenes Gemeinwesen. Er schloß sich mit seiner „soziologischen Staatsidee“ insofern der zu seiner Zeit weit verbreiteten Ansicht an, dass sich die Entstehung des Staates einer Überlagerung eines bestehenden Sozialverbandes durch einen neu hinzutretenden Sozialverbandes verdankt, der sich ersteren gewaltsam unterwirft und sich insbesondere Monopolstellungen an Grund und Boden verschafft, die Oppenheimer als Quelle aller „Mehrwertproduktion“ und asymmetrischer Reichtumsverteilung innerhalb einer Gesellschaft ansah. Die sogenannte „Bodensperre“ und nicht die von Marx beschriebene „ursprüngliche Akkumulation“ ist also ihm zufolge dafür verantwortlich, dass in den modernen Volkswirtschaften eine industrielle Reservearmee entstanden ist, die den Launen der kapitalistischen Ökonomie am stärksten unterworfen ist. Seine Losung für eine umgehende Gesellschaftsreform lautet deshalb auch nicht „Expropriation der Expropriateure“, sondern Aufhebung der Bodensperre und Schaffung von Siedlungen auf dem Lande, in denen die ehemals mittellosen Industriearbeiter ihren Lebensunterhalt in einer genossenschaftlichen Organisationsform selbst erwirtschaften.

Oppenheimer ist mithin bereits zu Lebzeiten zu Recht als Vertreter eines „dritten Weges“ zwischen Liberalismus und Sozialismus angesehen und geschätzt worden. Ihm ging es nämlich nicht um die Abschaffung des Privateigentums, sondern darum, dafür Sorge zu tragen, dass alle Gesellschaftsmitglieder in den Genuß dieses privatrechtlichen Institutes kamen, damit der Markt dafür Sorge tragen kann, dass es überhaupt zu einer optimalen Verteilung der ökonomischen Ressourcen und Erzeugnisse kommt. Am Anfang eines solchen Weges hin zu einem „liberalen Sozialismus“ steht ihm zufolge die Bodenreform, die dann gar keiner weiteren politischen Revolution mehr bedarf, um eine optimale ökonomische Allokation zu gewährleisten. Sein Kampf gegen die Macht der Monopole und der Vorherrschaft der „politischen Mittel“ gegenüber den „ökonomischen Mitteln“ entspricht dabei dem bereits von Max Weber beschriebenen Kampf der entstehenden Marktgemeinschaft zu Beginn der europäischen Neuzeit gegen die historisch vorgegebenen Schranken der „ständisch monopolistischen Vergesellschaftungen“. Weber hatte diese „Sprengung der ständischen Monopole“ (MWG I/22-1. 196f.) ähnlich wie Franz Oppenheimer als unentbehrliche Voraussetzung für das Funktionieren der spezifisch kapitalistischen Marktvergesellschaftung angesehen und dies mit einem leidenschaftlichen Appell zur rigorosen Aufhebung aller im Deutschen Reich damals praktizierten Zollschranken verbunden, um die deutsche Wirtschaft fit für den Weltmarkt zu machen.

Oppenheimer ging es demgegenüber weniger um die Ausarbeitung des wirtschaftspolitischen Programms eines nationalen Machtstaates, sondern darum, den Besitzlosen eine Zukunftsperspektive innerhalb eines privatwirtschaftlich organisierten Systems aufzuzeigen. Denn eines war Oppenheimers feste Überzeugung: Ohne eigenen Besitz an Grund und Boden wird es niemals möglich sein, die „Besitzlosen“ vom ökonomischen Vorteil einer liberal verfassten Marktwirtschaft zu überzeugen, der für ihn außer Frage stand und der sein Eintreten für eine freie und soziale Marktwirtschaft motivierte. Man könnte diesen Gedankengang dahingehend verallgemeinern, dass es nicht nur die Monopolstellungen bei der Verteilung des Grund und Bodens sind, die ein optimales Funktionieren des Marktes verhindern, sondern alle Monopolbildungen gleich welcher Art auch immer. Daß es jedoch nicht immer der Markt selbst ist, der solche Monopole beseitigt, sondern erst eine sich im Kampf gegen die Monopole auch politisch konstituierende Marktgemeinschaft bzw. „Freibürgerschaft“, die aus einer „gemeinsamen Bewusstseinslage“ heraus gegen die immer wieder neu entstehenden „ständisch monopolistischen Vergesellschaftungen“ zum Zwecke der Gründung einer wirklich den Namen verdienenden „Wirtschaftsgesellschaft“ ankämpft: dies ist die Lehre, die man auch heute noch aus dem von Franz Oppenheimer entwickelten „System der Soziologie“ ziehen kann und die dessen nachhaltige Aktualität unterstreicht.