Dimensionen kritischer Theorie
Theoriebildung in der Entwicklung der alten 'kritischen Theorie'
Im Folgenden wird ein Vergleich zwischen zwei Texten der sogenannten "alten kritischen Theorie" unternommen. Es handelt sich dabei um den Aufsatz "Traditionelle und kritische Theorie" von Max Horkheimer und um die Vorlesung "Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft" von Theodor W. Adorno. Dem muss vorausgeschickt werden, dass es sich hierbei um zwei höchst unterschiedliche Texte handelt. Dies gilt in mindestens dreifacher Hinsicht. Zum einen handelt es sich im Fall des von Horkheimer verfassten Textes "Traditionelle und kritische Theorie" um eine programmatische Arbeit, die die Leitlinien und Grundtendenzen kritischer Theoriebildung skizziert, während der andere Text das Resultat einer Vorlesung ist, die lediglich einen spezifischen Aspekt, nämlich den philosphischen, errötert. Zum zweiten muss berücksichtigt werden, dass die inhaltlichen Akzentuierungen und divergierenden Standpunkte zu einem nicht unbedeutenden Teil den Persönlichkeiten und den theoretischen Ausrichtungen der Autoren zu verdanken sind. Drittens ist von Bedeutung, dass die Texte sich auch in der Form unterscheiden, was sich in Länge, Ausdruck, Kontext und Themenvielfalt niederschlägt. All dem ist selbstverständlich Rechnug zu tragen und es könnte im Extremfall dazu führen, daß ein Vergleich nur mit der Konzession hergestellt werden kann, dass es sich hierbei um zwei unterschiedliche Linien innerhalb einer Tradition oder in zwei verschiedenen Traditionen handelt, die gleichberechtigt nebeneinander bestehen. Diese Gefahr liegt in unserem Fall jedoch nicht vor, da Horkheimer und Adorno spätestens seit dem Exil in den USA eng miteinander verbunden waren und sich dies auch in ihrer Arbeit niederschlug. So macht sich der Einfluß von Adorno auf Horkheimer zumindest in Teilen auch schon in der „Dialektik der Aufklärung“ bemerkbar. Zudem gerät Adorno mit Horkheimers Unterstützung zum Wortführer der kritischen Theorie der Nachkriegszeit, übertroffen an öffentlicher/studentischer Aufmerksamkeit nur von Marcuse gegen Ende der sechziger Jahre.
Kritische Theorie unterscheidet sich von herkömmlicher, traditioneller Theorie vor allem in ihrem Praxisbezug. So führt Horkheimer aus, daß es für die kritische Theorie vor allem kennzeichnend ist, daß sie an der realen Überwindung von Spannungen angelegt ist. Deswegen bedarf es in ihr einer Einheit von Theorie und Praxis. Unter dieser Einheit ist zu verstehen, daß Theoriebildung nicht außerhalb der gesellschaftlich relevanten Strukturen sich entwickeln kann, sondern Tendenzen, die sie in ihr aufzeigen kann auch immer an politische Kämpfe binden muß. Diese politischen Kämpfe sind aus Horkheimers Sicht im Kapitalismus zwingend Klassenkämpfe, weswegen es Zweck aller kritischen Theorie nur sein kann, diese Verhältnisse der Ungleichheit im kapitalistischen Produktionssystem und den in den Produktionsverhältnissen vorhanden Widersprüchen zu überwinden. Bei Adorno dagegen ist die Frage nach dem Sinn, Zweck und Ziel kritischer Theorie viel undurchsichtiger. Er führt in seiner Vorlesung über „Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft“ aus, daß es der Sinn von Theoriebildung überhaupt sei Tendenzen aufzuzeigen, worunter er versteht aufzuzeigen was über die Gesellschaft hinausgeht und dabei zugleich die Schwere dessen was ist einzubeziehen, also die Entwicklung der Gesellschaft unter Berücksichtigung ihrer wesentlichen Gesetzmäßigkeiten zu bezeichnen. Jedoch verweist er immer wieder auf die historisch vollkommen neue Situation in der Bundesrepublik der 60er Jahre. An Stelle der „Ketten“ außer denen die Proletarier in einer kommunistischen Revolution nach Marx nichts mehr zu verlieren haben, sind in dieser Zeit eine Vielfalt verschiedener Güter getreten und die Gesellschaft erweist sich als insgesamt prosperierend, auch wenn er die starke These von der Nivellierung des Bewußtseins, als auch der Angleichung der Löhne weit aus skeptischer betrachtet, als dies in der Öffentlichkeit der späten fünfziger und der 60 er Jahre getan wurde. Diese reale Verbesserung der Lebensverhältnisse kann von dem Prozeß der Theoriebildung nicht ignoriert werden, will sie nicht selbst zur Ideologie verkommen. Daher besteht in diesem Punkt der Zielgerichtetheit kritischer Theorie sowohl eine Konstante als auch eine große Veränderung in der Zeit vor und nach der Emigration in die USA. Während die kritische Theorie vor dem zweiten Weltkrieg vornehmlich ein historisch-materialischtisches Weltbild vertrat, daß den Widerspruch des Klassenverhältnisses in der Vordergrund seines Weltbildes stellt, bestehet der zeitdiagnostische Befund der kritischen Theorie, wie sie Adorno annähernd dreißig Jahre später formuliert, vor allem in der Undurchsichtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Ziel von Theoriebildung ist daher verschoben. Bildete zuvor ein klares an politische Prozesse gebundenes Ziel den Hintergrund der Genese von Theoriebildung, verschiebt sich ihr Schwerpunkt nun auf das Aufdecken gesellschaftlicher Widersprüche. Der Bezug zu einer realen gesellschaftlichen Praxis besteht vor allem in der Entwicklung des gesellschaftlichen Bewußtseins. Theoriebildung soll innerhalb einer sich zunehmenden rationalisierenden Gesellschaft (Rekurs auf Weber) den Schleier der hinter allen Rationalisierungsprozessen stehenden Irrationalität lüften, um so auf gesellschaftliche Widersprüche hinzuweisen. In diesem Bezug zum Widerspruch als zentrales Merkmal kapitalistischer Gesellschaften besteht die Konstante kritischer Theorie über den Weltkrieg hinaus. Auch in den theoretischen Bestimmungen dieser Widersprüche als Resultate des im Kapitalismus staatfindenden besonderen Charakter des Tauschaktes bleiben die Diagnosen zwischen Horkheimer und Adorno in einer Entwicklung. Der Tauschakt wird durch die Einbindung in ästhetische Theorienbildung in seiner Bedeutung sogar vergrößert und zum zentralen Merkmal der Marktgesellschaft (Fetisch-Werdung). Allerdings sieht Adorno von der Befreiung aus materieller Ungerechtigkeit in weiten strecken ab und betont dagegen das Leiden der Subjekte an der Unfähigkeit innerhalb einer rationalen gesellschaftlichen Struktur dieser Struktur selber Herr zu werden und sie nach ihren Interessen zu lenken. Befreiung verlagert sich also aus der äußeren Sphäre in die Innere. Anstelle der Befreiung einer Klasse von Ausbeutung fördenden Produktionsverhältnissen tritt die Befreiung des Subjekts in den Vordergrund und es bleibt unklar wie diese Befreiung an die Frage nach den realen materiellen Bedingungen geknüpft ist. Das Verhältnis von Theorie und Praxis verschiebt sich also in seiner Gewichtung. Verbindend zur kritischen Theorie vor dem zweiten Weltkrieg ist der Umstand, daß das Theorie-Praxis-Verhältnis als für Theoriebildung bestimmend konstatiert wird. Alleine in der Frage nach der Ausformung des Verhältnisses liegt ein Unterschied. Dieser ist allerdings gravierend, weil in diesem gewandelten Verhältnis zwei Punkte zum Ausdruck kommen: Zum einen markiert es die Berücksichtigung materiell besserer Verhältnisse im kapitalistischen System, sowie die Diktatur im Osten, die Adorno als Paradebeispiel für verfehlte gesellschaftspolitische Praxis gilt und zum andern drückt sich hierin ein gewandeltes Menschenbild aus. Vor allem letzterer Punkt ist von Bedeutung, weil er klärt warum aus theoretischer Reflexion keinen direkte, unmittelbare Praxis folgt.
Das Thema in neun Thesen:
1.) Im Vergleich der beiden Texte ist vor allem das veränderte Verhältnis von Theorie und Praxis zu berücksichtigen
2.) Verstand Horkheimer in den 30 er Jahren die Aufgabe von Theorie noch als ein reales Eingreifen in die gesellschaftliche Praxis, versteht Adorno später die theoretische Reflexion selbst als eine reale Praxis, die ihrerseits die auf die Realität Einfluß nimmt.
3.) Im Laufe der Entwicklung der Kritischen Theorie verändern sich ihre Ziele: Aus einer klaren Zielsetzung, der Abschaffung der Klassenverhältnisse auf der Grundlage sozialphilosophischer Reflexionen, entsteht ein unklares Bild in Bezug auf die Richtung gesellschaftlicher Entwicklung.
4.) Die Gründe für diesen Wandel bilden im wesentlichen vier Erfahrungen: erstens die Vertreibung und die Schreckenherrschaft durch den Nationalsozialismus, zweitens die Erfahrung des „beschädigten Lebens“ in den USA als Sinnbild für die Entfremdung des Menschen in der kapitalistischen Moderne, drittens die Pervertierung des Marxismus durch die Diktatur in der Sowjetunion und viertens die Angleichung der Lebensverhältnisse, die in der Formel von der nivellierenden Mittelstandsgesellschaft der Nachkriegzeit ihren Ausdruck findet.
5.) Trotz diesem Wandel im Selbstverständnis und im Anspruch der Kritischen Theorie bleibt sie in bezug auf ihre grundsätzliche Analyse der kapitalistischen Gesellschaft in einer Linie. Kennzeichnend für die Entwicklung der Gesellschaft, den vorhandenen Widersprüchen, den sozialen Pathologien etc. sind in erster Instanz die Produktionsverhältnisse.
6.) Die Dimensionen der Theoriebildung bilden auch in der späteren Kritischen Theorie die Prozesse der Rationalisierung, der Bürokratisierung, der Produktionsverhältnisse und die in diesen Prozessen ausgelösten Wandlungsprozesse des Bewußtseins.
7.) Entgegen dem Standpunkt, daß in der Kritischen Theorie ein grundlegender Wandel von einem optimistischen zu einem pessimistischen Projekt stattgefunden hat muß konstatiert werden. Daß sich weniger die Dimensionen der Theoriebildung verändert haben, als vielmehr die gesellschaftlichen Verhältnisse. Und gerade unter diesen radikalen Veränderungen zeigt sich der Ansatz der Kritischen Theorie in besonderer Stärke. Die Ereignisse und Befunde werden reflektiv in die Theoriebildung integriert.
8.) Die Idee der Klasse spielt deswegen immer noch eine entscheidende Rolle, jedoch ohne die klare geschichtlich-revolutionäre Perspektive. Ihre Bedeutung verschiebt sich zu Gunsten anderer, für die Zeit der frühen Bundesrepublik angemessenen Analysen.
9.) Insgesamt kann konstatiert werden, dass sich an dem Vergleich der beiden Texte zeigt, dass es sowohl Konstanten in der Kritischen Theorie gibt, wie gleichsam dynamiken in ihrer Netwicklung. Zu den konstanten gehört, dass erstens es in jedem kritisch theoretischen Entwurf eine Konzeption gesellschaftlicher Rationalisierungsprozesse gibt. Zweitens kann gesagt werden, dass bestimmte gesellschaftliche Organisationsformen diese Prozesse behindern, weil der Kapitalismus Praktiken des Lebens präferiert, die auf instrumenteller Vernunft basieren. Und drittens ist es für die kritische Theorie kennzeichnend, dass sie Subjekte beschreibt, die auf diese Prozesse nicht indifferent, sondern mit Leid reagieren.