Kant ist kein Frankfurter

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Kant ist kein Frankfurter Von Otfried Höffe

Rainer Forst begründet das Recht auf Rechtfertigung, allerdings nicht ganz zureichend © Suhrkamp Verlag


Auf Immanuel Kant ist eine weit verzweigte Sippe von Philosophen gefolgt, deren Moral- und Rechtstheorie stark von Kant inspiriert ist. Zum Frankfurter Familienzweig, den Diskurstheoretikern, deren Mentor Jürgen Habermas ist, gehört auch der 43-jährige Rainer Forst, der als Theoretiker der Gerechtigkeit und der Toleranz über die Fachgrenzen hinaus bekannt wurde. Wie Habermas vertritt auch Forst die »Gleichursprünglichkeit« der beiden Pfeiler moderner Demokratie, der Menschenrechte und der Volkssouveränität. Im Unterschied zu Habermas will er sie aber aus einer Wurzel, dem Recht auf Rechtfertigung, erklären, dem nun sein neues Buch gilt.


Damit ist zum einen gemeint, sich selbst gegen Anschuldigungen zu rechtfertigen, und zum zweiten, für eine Sache die Gründe vorzutragen, die sie rechtfertigen. Bei Forsts Recht, vom anderen für dessen Handlungen und Überzeugungen Gründe zu verlangen, dürften beide Bedeutungen eine Rolle spielen. Aus dem Recht auf Rechtfertigung könnte nun die Diskurstheorie neue Überzeugungskraft gewinnen, vorausgesetzt, es würde systematisch in einer Monografie gerechtfertigt. Forst legt aber nur eine Sammlung von zwölf überwiegend schon veröffentlichten Aufsätzen vor, präsentiert in drei Teilen zu je vier Kapiteln. Der erste Teil, Praktische Vernunft, Moral und Gerechtigkeit, stellt Grundlagen dar. Forst erläutert den Gedanken rechtfertigender Gründe, skizziert eine Moraltheorie »nach Kant«, unterscheidet zwischen dem ethisch Guten und dem moralischen Richtigen, um schließlich, nach einem Vergleich von Rawls und Habermas, die eigene Theorie der Gerechtigkeit vorzustellen. Danach sollen die Menschenrechte – abweichend von der üblichen Bedeutung des Worts – als institutionalisierte Bedingungen der Kommunikation in einer vernünftigen, politischen Willensbildung »erst in konkreten Diskursen bestimmt, interpretiert und institutionalisiert werden«. Dagegen meldet sich Skepsis zu Wort. Wenn die Menschenrechte tatsächlich »Bedingungen« von Kommunikation sein sollen, handelt es sich, wie ich schon früher eingewandt habe, um »Präjudizien« des Diskurses. Präjudizien sind aber Vorgaben, die wie der Schutz von Leib und Leben den gleichberechtigten Zugang zum Diskurs ermöglichen, die man daher in konkreten Diskursen nicht mehr zur Disposition stellen darf. Im zweiten Teil, Politische und soziale Gerechtigkeit, untersucht Forst unter anderem drei Modelle von deliberativer Demokratie, von Demokratien also, in denen Bürger in geregelten, öffentlichen Diskursen über die politischen Themen beraten: John Rawls’ liberales Modell gilt als prinzipiengebunden; das kommunitaristische Modell orientiert sich an gemeinschaftlichen Werten; und in Forsts eigenem Modell, der Herrschaft der Rechtfertigung, sollen beide Momente ihren Ort finden. Dass aber innerhalb der allgemein teilbaren Gründe liberale Grundsätze und gemeinschaftliche Werte auf unterschiedliche Weise zu rechtfertigen sind, wird in Forsts neuem Buch nicht hinreichend klar. Der dritte Teil stellt zunächst eine »konstruktivistische Konzeption der Menschenrechte« vor, um schließlich, im Anschluss an einen Vergleich von Rawls’ und meiner Theorie transnationaler Gerechtigkeit, für ebendiese Gerechtigkeit eine kritische Theorie zu skizzieren. Nach deren Bilanz liegt die Gerechtigkeitsautorität »weder bei einem globalen Gericht noch bei Moralphilosophen oder den jeweiligen Betroffenen allein; sie liegt in einem Prozess der Rechtfertigung«. Hier wüsste man gern, wie die angedeutete Arbeitsteilung genauer aussieht: Wofür ist genau die Moralphilosophie (für die Präjudizien?), wofür die Gesamtheit der Betroffenen (für die Verfassungs- und Gesetzgebung?), wofür ein Gericht zuständig?


Forsts Texte beeindrucken durch den weitläufigen Bezug auf neuere Debatten. Manchem Leser wird allerdings die Lektüre nicht leichtfallen. Denn schon die Einleitung erwartet von ihm, philosophische Begriffe wie »diskurstheoretisch« und »formalpragmatisch« nicht nur zu kennen, sondern sie auch als so überlegen anzuerkennen, dass er sich dann weithin mit familieninternen Feindebatten zufriedengibt.

Eine Rechtfertigung des Rechts auf Rechtfertigung brauchte jedoch mehr. Forst entwickelt aber keine umfassende Theorie. Er setzt vielmehr – mit welchem Argument, bleibt unklar – die theoretische Welt der Aussagen beiseite, konzentriert sich auf die praktische Welt des Handelns, schränkt diese im Wesentlichen auf die Moral ein und konzentriert sich bei ihr auf die Gerechtigkeit. Beim Übergang von einer allgemeinen Moraltheorie zu einer speziellen Rechts- und Gerechtigkeitstheorie stellt sich jedoch die Frage, wo und warum es ein Recht, den Zwang des besseren Arguments zu erzwingen, gibt: Über welche Verletzung des Rechts darf man empört, wegen welcher nur enttäuscht sein? Innerhalb der Diskussion um Gerechtigkeit lässt Forst die Gerechtigkeit als Charaktermerkmal, die personale Gerechtigkeit also, beiseite, obwohl er sich bei Kant auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bezieht. Nach deren berühmten Einleitungssatz kommt es aber auf den guten Willen an. In einer Gerechtigkeitstheorie entspricht ihr die personale, nicht die politische Gerechtigkeit, weshalb es bei der Aufgabe der Rechtfertigung zuerst auf eine Grund-Pflicht, nicht auf ein Grund-Recht zur Rechtfertigung ankäme.

Generell wünschte man sich, Rainer Forst würde über den Dutzenden von Sekundärautoren seinem veritablen Primärautor Kant mehr Aufmerksamkeit schenken. Beispielsweise beruft er sich auf Kants kategorischen Imperativ, »andere Personen« als Zwecke an sich selbst zu achten, während Kant diese Verkürzung ablehnt. Mit Nachdruck verlangt er, auch die Menschheit »in deiner Person« als Zweck zu behandeln. Kants Alternative zu der in Frankfurt vorherrschenden Reduktion der Moral auf Intersubjektivität besteht nicht in ichbezogener Subjektivität; eine moralische Person ist vielmehr, wer die Doppelverpflichtung, sowohl gegen andere als auch gegen sich selbst, anerkennt. Und die Anerkennung darf nicht verbal bleiben. Es genügt nicht einmal, Kriterien von Wechselseitigkeit und Allgemeinheit verstehen, akzeptieren und anwenden »zu können«. Man muss das Können im gelebten Leben praktizieren, zumindest dieses versuchen. Eine weitere Provokation Kants: Im Reich der Zwecke ist der Mensch zwar selber gesetzgebend; er ist aber lediglich ein Glied dieses Reiches und nicht, wie Forst schreibt, auch ihr Oberhaupt.

Wichtiger als die Interpretation Kants ist freilich die Strategie der Argumentation. Hier teilt Forst die Frankfurter Skepsis gegen Anthropologie, obwohl die neueren, teils biologischen, teils kulturwissenschaftlichen Beiträge mancherlei Skepsis entkräften dürften. Trotzdem beginnt aber seine Einleitung erstaunlicherweise mit anthropologischen Bestimmungen. Von ihnen, letztlich einem Sein, gewinnt sie, was eine methodisch reflektierte Anthropologie nicht einmal versucht, ein Sollen: Aus der »Gabe« des Menschen, sich mit Gründen rechtfertigen zu können, später zum Umstand verschärft, »ein der Gründe bedürftiges Wesen« zu sein, scheint Forst, freilich nur »irgendwie«, eine wechselseitige Verpflichtung zu gewinnen, das Zusammenleben nach allgemein teilbaren Gründen zu gestalten.


Das Recht auf Rechtfertigung ist ein großes Thema. Streng genommen kündigt es eine umfassende Fundamentalphilosophie in praktischer Hinsicht an. Forsts Einleitung spricht von Handlungen und Überzeugungen. Tatsächlich bescheidet sich Forst mit der Grundlegung einer Moral- und Rechtsphilosophie. In Zeiten, da man von den Universitäten Exzellenz fordert, sie mit immer mehr Bürokratie und Geschäftigkeit jedoch zu verhindern sucht, bietet sich eine Initiative zweier Stiftungen an. Das Opus-magnum-Programm der Fritz-Thyssen- und der Volkswagen-Stiftung hilft geplagten Geisteswissenschaftlern, was man sich hier gewünscht hätte: dass ein großes Thema zu einem großen Wurf ausgearbeitet werde.

Otfried Höffe ist Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Zuletzt erschien von ihm »Lebenskunst und Moral Oder macht Tugend glücklich?« , C. H. Beck, 2007