Wolfgang Kraushaar und Michael Naumann im Gespräch

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Wie wir uns befreiten

© DIE ZEIT Geschichte, Nr. 2/2007

Michael Naumann und Wolfgang Kraushaar im Gespräch über 1968, die Folgen und das Selbstverständnis der Republik

© ZEIT Geschichte 2/2007

Meine Herren, fühlen Sie sich persönlich als 68er? Michael Naumann: Das ist keine Frage des Gefühls, man wird zwangsrekrutiert, ganz einfach kraft des Geburtsjahrgangs, in meinem Fall 1941.

Wolfgang Kraushaar: Als jemand, der erst 1948 geboren worden ist, war ich eher eine Art Tangential- 68er. Ich gehörte also, was meinen eigenen Erlebnishorizont anbetrifft, gerade noch dazu. Das ist nicht ganz unwichtig, weil es unter Umständen viel ausgemacht hat, ob man zu Beginn oder am Ende der vierziger Jahre geboren wurde.

Also, 68er, ja oder nein?

Kraushaar: Wenn Sie mir schon so die Pistole auf die Brust setzen, dann müssten Sie mir erst verraten, ob damit die Zugehörigkeit zu einer sogenannten 68er-Generation gemeint ist. Denn das ist ein Begriff, den ich nach Möglichkeit vermeide. Ich selbst begreife mich nicht als Angehöriger einer Generation; aber ich war zeitweise Angehöriger einer Bewegung, die im Nachhinein als 68er-Bewegung etikettiert worden ist.

Naumann: Der Begriff der 68er ist in der Tat erst im Nachhinein erfunden worden und dann vorwiegend als Schuldzuweisung. Wann immer etwas in der Gesellschaft zwanzig Jahre später schieflief – die 68er waren schuld. Ob nun der Sohn sitzen blieb oder der Deutschlehrer nicht richtig Deutsch konnte – alles wurde, besonders im Bereich der Schulen und Universitäten, den sogenannten 68ern in die Schuhe geschoben. Diejenigen, die Ende der sechziger Jahre für einen fälligen gesellschaftspolitischen Aufbruch gesorgt hatten, waren ein paar Jahrzehnte später plötzlich die Sündenböcke. Die Scheidungsrate stieg? Na klar, die 68er! Die öffentlichen Sitten verfielen? Die 68er! Insofern bekenne ich mich schuldig.

Kraushaar: Seit Jahren biete ich im Scherz jedem, der mir einen Nachweis erbringen kann, dass bereits vor 1980 von »den 68ern« oder »der 68er-Bewegung« gesprochen wurde, 1000 Euro in bar. Erst seit 1980 gab es sie, die sogenannten 68er ...


Wie kam es dazu?

Kraushaar: Zu Beginn der achtziger Jahre suchte eine neue Jugendbewegung nach einem Abgrenzungsmerkmal. Diese Bewegung, die vor allem durch spontane Hausbesetzungen Aufsehen erregte, begann in Städten wie Zürich, Kopenhagen und Amsterdam, dehnte sich dann auf West-Berlin aus und sprang schließlich auch auf Universitätsstädte wie Göttingen und Freiburg über. Die damaligen Aktivisten versuchten sich von dem schier übermächtigen Schatten abzusetzen, den die Vorgängerbewegung auf sie geworfen hatte. Dafür hat man den Begriff der »68er« erfunden. Und dieses Etikett ist von den Medien begierig aufgegriffen worden – vor allem weil es knapp war und einen negativen Unterton besaß. Das war also der Ursprung für die unglaubliche Karriere eines Kürzels, dem man sich seither kaum noch entziehen kann.

Greift das nicht vielleicht doch etwas zu eng? War 1968 nicht vor allem ein internationales Datum? Wenn man etwa an Berkeley denkt oder an Paris ... Kraushaar: Zweifelsohne, terminologisch jedoch unterscheidet sich das in vielen Ländern. In Frankreich etwa ist nur vom »Mai« die Rede, wenn die Revolte gemeint ist, die sich im Frühjahr 1968 abgespielt hat, jedoch nicht von »68«. Umso tiefer hat der Begriff die deutsche Nachkriegsgeschichte geprägt.

War nicht auch die Regierungsübernahme durch RotGrün eine Spätfolge von 1968? Naumann: Teilweise schon. Die Grünen hätte es ja ohne jene Jahre erst gar nicht gegeben. Sie hatten die antiautoritäre Bewegung geradezu verinnerlicht. Der ökologische Aspekt ihrer Partei spielte bei den 68ern allerdings überhaupt keine Rolle.

Kraushaar: Einige Themen der 68er erhielten fraglos einen enormen Resonanzboden, als mit Rot-Grün ein Personal an die Macht kam, das zumindest biografisch durch die 68er-Bewegung stark beeinflusst gewesen ist.

Reden wir also spätestens seit 1998, wenn wir von 68 reden, über eine Erfolgsgeschichte, jedenfalls in Deutschland?

Naumann: Ich meine Ja, und zwar aus folgendem Grund: 68 war doch hauptsächlich eine kulturelle Bewegung und vielleicht zu zwanzig Prozent eine politische. Auf seinem Höhepunkt zählte der SDS maximal 2000 Mitglieder! Kulturell gesehen war es aber eine Erfolgsgeschichte. 68 steht für die fällige Distanzierung nicht nur von der Generation der im Nationalsozialismus verstrickten Väter; es ging auch um die Offenlegung der von Exnazis bevölkerten Universitätslehrkörper. Mein damaliger Professor Eric Voegelin, ein konservativer Mensch, aus Wien in die USA geflohen und später zurückgekommen, sprach über Teile seiner professoralen Kollegen in München als »braunes Gesindel«. Er hatte recht. So war das damals. Aber eine Begleiterscheinung jener Jahre wird, weil sittlich peinlich, gerne übergangen – die sexuelle Emanzipation der Frauen. Die Einführung der Pille hat wahrscheinlich eine wesentlich größere gesellschaftliche Relevanz gehabt als alle SDSFlugblätter zusammen. Man nannte das, theoretisch korrekt, »repressive Entsublimierung«.

Kraushaar: Dem möchte ich tendenziell widersprechen. Denn ich stehe dem, was von Ihnen als ein Erfolg in soziokultureller Hinsicht bezeichnet wird, inzwischen mit einiger Skepsis gegenüber. Vor allem deshalb, weil eine der wichtigsten Wurzeln der antiautoritären Bewegung in gewisser Weise »kontaminiert« gewesen ist. Damit meine ich einige derjenigen, die aus der berühmt- berüchtigten Kommune I hervorgegangen sind; insbesondere Dieter Kunzelmann, der sich ja im Laufe des Jahres 1969 expressis verbis als Antisemit verstanden hat. Er war es schließlich auch, der mit Georg von Rauch und anderen die erste terroristische Gruppierung gegründet hat, die Tupamaros West-Berlin. Ihre konstituierende Aktion war ein versuchter antisemitischer Bombenanschlag. Man tut daher im Nachhinein gut daran, an einigen Motiven zu zweifeln, die die Kommune I gestiftet hat. Damit ist zugleich aber auch etwas von der soziokulturellen Fernwirkung der 68er-Bewegung infrage gestellt.

Naumann: Der Antisemitismus, das soll weiß Gott nichts entschuldigen, tauchte damals in den verschiedensten Ecken der Gesellschaft mit wesentlich größerer Wirkung auf – zum Beispiel in der NPD. Dass er auch bei einigen 68ern eine Rolle spielte, hat eine traurige Tradition: Man lese Karl Marx, Zur Judenfrage. Der Antisemitismus des propalästinensischen Flügels der 68er blieb folgenlos, und das ist das Beste, was man über ihn sagen kann. Die kulturelle Relevanz jener Bewegung ist ungleich größer geblieben.

Was könnte diese Relevanz begründen?

Naumann: Da war zum Beispiel das Motiv der demonstrierenden Studenten. Es war ein sozialdemokratisches: Wir wollten, dass mehr Arbeiterkinder studieren konnten. Dafür sind wir nicht nur in München auf die Straße gegangen, und Zehntausende sind mitmarschiert. Es war eine Art Weckruf. Damals stammten nur fünf Prozent der Studenten aus dem Arbeitermilieu, heute sind wir bei über zwanzig Prozent. Das halte ich für einen bedenkenswerten Erfolg jener Jahre – aber es waren natürlich nicht die Demos allein; sie waren nur ein Reflex des Umdenkens im ganzen Land. Der zweite Erfolg dieser Bewegung war ein Angstabbau angesichts des Staats. Man muss sich daran erinnern, dass die Mentalität des Obrigkeitsstaats damals noch nicht verwelkt war.

Kraushaar: Ich will diese Verdienste ja gar nicht pauschal bestreiten, begreife das Erbe dieser Zeit jedoch weniger kausallogisch. Dieses Land ist zweifelsohne offener, liberaler geworden, das ist keine Frage. Es ist aber im Nachhinein schwierig zu unterscheiden, ob das vornehmlich das Verdienst der damaligen Akteure war – ich vermute, eher nein. Schon während der Großen Koalition, vor allem aber in der sozialliberalen Regierung hat es in dieser Richtung entscheidende Impulse gegeben. Daher sollte man es sich im Rückblick nicht zu einfach machen und alles auf der Habenseite der 68er-Bewegung verbuchen.

Naumann: Aber Übertreibung war doch eine schöne Stärke unserer Generation ...

Heute scheint eher das Gegenteil Common Sense: Alle klagen über Niveauverlust an den Universitäten, die Leute sehnen sich nach Regeln. Gefordert wird eine neue Bürgerlichkeit, die Neokonservativen scheinen zunehmend die Hoheit über diesen Diskurs zu gewinnen. Kraushaar: Das gehört wiederum zum unrühmlichen Kapitel »Kulturkampf«. 68 war immer umkämpft und umstritten, besonders nach der deutschen Einigung 1990 ist es in konservativen Kreisen zu einer Art Feindbild » geworden. Man konnte mitunter ja ganz verwegene Dinge hören. Da ist schon mal die These aufgestellt worden, dass der Rechtsextremismus ein Produkt der antiautoritären Erziehung sei. Inzwischen habe ich den Eindruck – und das hat auch im Wahlkampf 2005 eine Rolle gespielt –, dass man es mit dem Versuch einer endgültigen Diskreditierung von 68 zu tun hat. Man will das als Phänomen mit allen Mitteln beiseitedrängen und als Faktor mit seiner politischen Fernwirkung abschaffen. Letztendlich sind aber all diese Prognosen und Versuche immer wieder gescheitert.

Die Frage ist doch, weshalb das Thema »1968« immer wieder hervorgeholt wird, geradezu zyklisch. Es scheint, als diene es einer fortwährenden Identitätsstiftung.

Naumann: Spätestens nach 1945 gab es aus gutem Grund eine Vertrauenskrise im Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Die ist bis heute nicht völlig verschwunden. Und wie überwindet man sie? Zum Beispiel durch gesellschaftliche und historische Debatten, die um die Frage kreisen: Wer sind wir? Und diese Frage wurde uns von den 68ern das erste Mal nach dem Krieg schmerzhaft und nachhaltig gestellt. Sie hallt bis heute, mal lauter, mal leiser, nach. Ich glaube immer noch, dass die deutsche Identitätsdiskussion eine historisch gewachsene Unsicherheit widerspiegelt. In ihr verbirgt sich die Frage nach den Ursachen des Holocaust, nach moralischer Schuld. Wer waren wir, die wir dies taten? Im Grunde genommen ist die Diskussion eine kulturelle Signatur der Bundesrepublik. Es gibt kein anderes europäisches Land, das sich diese Fragen nach seiner Identität seit 1945 so intensiv stellt wie unseres. Aber diese scheinbare Identitätsschwäche ist auch unsere kulturelle und politische Stärke.


Kraushaar: Ich stimme dem zu: In diesen zyklisch ablaufenden Kontroversen über und um 1968 geht es im Grunde immer wieder um die Frage nach dem Selbstverständnis in unserer Republik. Erstaunlich ist dabei weniger das Bedürfnis nach Selbstversicherung an sich, sondern die Tatsache, dass dafür ausgerechnet die 68er- Bewegung herangezogen wird. Denn sie markiert ja, historisch betrachtet, keineswegs eine so eindeutige Zäsur, wie gern behauptet wird. Da gibt es viel klarer zu benennende Einschnitte in der deutschen Nachkriegsgeschichte: Die erste Zäsur war ja der 17. Juni 1953, eine große, leider erfolglos gebliebene Massenbewegung, die sich gegen die SED-Herrschaft richtete, die zweite dann der Mauerfall am 9. November 1989 mit der deutschen Einigung und dem Ende des Ostblocks und des Kalten Krieges als Folge. Im Vergleich dazu scheint 1968 als ein objektives Datum weniger Gewicht zu besitzen. Gleichwohl taucht 68 auf der Plattform gesellschaftspolitischer Diskussion immer wieder auf und wird ein ums andere Mal neu besetzt – im Negativen wie im Positiven.


1968 liefert in diesen Auseinandersetzungen vor allem den sogenannten Konservativen geradezu einen Steinbruch an Argumenten.

Naumann: Oje, die Konservativen. Wo sind sie geblieben? Ich glaube, dass das, was man ursprünglich in Deutschland als politisch konservativ bezeichnet hat und was in meinen Augen geprägt war durch Staatsgläubigkeit und allerlei sittliche Vorstellungen, die sich zum Beispiel im Paragrafen 175 niederschlugen – ich glaube, dass sich dieses Milieu infolge der 68er-Bewegung verflüchtigt hat. Das Land ist liberaler geworden, selbst in seinem konservativen Teil. So war auch Joachim Fest, angeblich der bürgerliche Deutsche schlechthin, in seinem ganzen Wesen eher ein literarischer Künstler als ein bodennaher Konservativer. Er war, anders, ein Citoyen. Eine seltene Spezies. Ob Künstler oder Konservativer, dieses Milieu, wie Sie es nennen, fühlte sich von der 68erBewegung bis aufs Blut bekämpft.


Naumann: Diejenigen, die 1968 die Bürgerlichkeit besonders heftig bekämpft haben, kamen allerdings meistens aus mittel- und großbürgerlichen Haushalten. Sie revoltierten gegen die Väter! Deren Schweigen gegenüber den Hitler-Jahren war bekanntlich riesengroß. Es hatte jedoch überhaupt nichts zu tun mit ihrer angeblichen Unfähigkeit zu trauern, sondern mit ihrer moralischen Scham. Sich zu schämen wurde dann als Verdrängung bezeichnet. Ich glaube aber, dass viele 68er in diesen Fällen in ihrer Kritik maßlos waren. Es war ein kostenloser Rausch, sich unschuldig am »Dritten Reich« zu fühlen.


Kraushaar: Richtig ist jedoch: Es gab in der Vätergeneration zu wenige Leute mit Rückgrat. Dies lieferte den 68ern eine große Angriffsfläche. Nicht ohne Grund verstand sich die Bewegung dann im Kern als eine Art Generalangriff auf die bürgerliche Gesellschaft. Die antiautoritäre Bewegung zielte insbesondere auf die Familienstruktur, deren Wertekanon und die Erziehung im Allgemeinen ab.

Es gab einen starken Affekt gegenüber Institutionen per se, gegen jede Form von Kanon, gegen Regeln ...

Kraushaar: Da liefern Sie ein entscheidendes Stichwort. Denn für das Selbstverständnis der antiautoritären Bewegung war kaum etwas so prägend wie ihr Antiinstitutionalismus. Es existierte zwar keine kohärente Theorie des Antiautoritarismus, jedoch gab es wesentliche Elemente davon: zunächst das Theorem des autoritären Staates und dann das der autoritären Persönlichkeit, die so gut auf diese preußisch sozialisierte deutsche Gesellschaft zu passen schien, die sich dann zum Nationalsozialismus entwickelt hatte. In dieser Kombination erschien die Bundesrepublik damals insgesamt als eine autoritär strukturierte Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund artikulierte sich eine Vertrauenskrise, die sich im Wesentlichen aus zwei Motiven speiste: zum einen der nicht wirklich aufgearbeiteten NS-Vergangenheit und den damit einhergehenden Zweifeln am damaligen politischen System und zweitens den Legitimationsdefiziten gegenüber dem von den USA geführten Krieg in Vietnam.

Vietnam war das Motiv, das quer durch die Welt die Protestbewegung einte. Allein 1968 sind in Vietnam jeden Tag so viele Leute gestorben wie bei den Anschlägen in den USA vom 11. September 2001.

Kraushaar: Der Vietnamkrieg dauerte von 1965 bis 1975. Das ganze Jahrzehnt war von einem imaginären Geschützdonner begleitet, den man Abend für Abend in der Tagesschau mitbekam. Das ist für diejenigen, die gemeint haben, sich in ihrem politischen Moralismus nicht beruhigen zu dürfen, eine permanente Herausforderung gewesen; deshalb wurde das immer wieder aufs Neue in die Öffentlichkeit getragen. Das hat auch die internationale Bewegung zusammengeschweißt ...

Naumann: ... die ja aus Amerika kam ...


Kraushaar: ... ja, und die dann zu einer regelrechten Antikriegsbewegung geworden ist. Spätestens seit der Tet-Offensive im Februar 1968 war das eine Antikriegsbewegung ...

...wohingegen die deutsche Bundesregierung den Krieg befürwortete oder zumindest nicht kritisierte. Selbst jemand wie Willy Brandt als Außenminister in der Großen Koalition hat damals keine öffentliche Kritik am Vietnamkrieg geübt. Kraushaar: Das ist in der Tat bemerkenswert. Selbst Brandt, dem man es am ehesten zugetraut hätte, hat es damals nicht gewagt, die USA offen zu kritisieren – obwohl man ahnte, wie kritisch er in Wahrheit darüber dachte. Insofern gab es ein großes Glaubwürdigkeitsdefizit, das zu einer regelrechten Vertrauenskrise ausuferte, die dann die Basis für einen tief greifenden Antiinstitutionalismus darstellte.


Paradoxerweise hat dieser Antiinstitutionalismus der 68er doch aber letztlich zu einer Modernisierung vieler Institutionen geführt. Kraushaar: Jürgen Habermas hat dies 1988 auf den Punkt zu bringen versucht, als er die Frage nach den Folgen von 68 mit einem einzigen Namen, dem einer CDU-Politikerin, beantwortete: Rita Süssmuth. Daran könne man erkennen, dass die 68er-Bewegung keineswegs ein Irrläufer gewesen sei. Schließlich habe sich keine Volkspartei ihren Impulsen vollständig entziehen können, auch die CDU nicht.


Naumann: Es gibt aber noch einen weiteren Faktor jener Jahre, der wahrscheinlich eine wesentlich größere kulturelle Langzeitwirkung hatte als die Bildungsdebatte oder das Revolutionspathos der 68er. Das war die Hippie-Bewegung. Es war eine Aussteigerbewegung von Mittelstandskindern. Ich habe das 1966 in San Francisco selbst miterlebt. Die Grundstimmung in dem Milieu war: Das Heil auf Erden bricht an, und zwar mit einer kleinen Dosis LSD etwas schneller als gedacht. Es handelte sich um eine säkular-religiöse Bewegung sondergleichen. Zwei Jahre später hatte sich Haight-Ashbury in eine Hölle verwandelt. Die Straßen waren voll mit Heroin-Junkies, die schönen Blumenläden waren geschlossen, der Stadtteil war verkommen. Aber diese Flower-Power-Bewegung, die messianische Qualitäten hatte und sich dann vor allem modisch ausdrückte, lief ja parallel zur Apo-Zeit in Deutschland – sie leistete einen wesentlichen Beitrag zur romantischen Idealisierung der gesamten Zeit in den Medien weltweit.


Kraushaar: Das vielleicht wichtigste Stichwort war dabei die Romantik. Was sich dort in der Zeit zwischen 1965 und 1967 abgespielt hat, war hochromantisch besetzt. Die Hippie-Bewegung ist in Haight-Ashbury ja bereits im Oktober 1967 zu Grabe getragen worden. Sie ist dann hierzulande zeitversetzt adaptiert und nicht minder romantisch aufgeladen worden, allerdings mit all ihren typisch deutschen Implikationen. Naumann: Das mit der politisierten Romantik zieht sich übrigens bis in die Gegenwart. Heute noch kann meine Generation »Ho-Ho-Ho-Chi-Minh« auf der Autohupe drücken. Keiner sonst weiß aber mehr, was das mal bedeutet hat. Eine Akustik enttäuschter Hoffnungen, mehr nicht. Manche stehen eben im Stau der Erinnerungen und drücken auf die Hupe. Andere haben 1848 bei offenem Fenster die Marseillaise auf dem Klavier gespielt und wurden dann brave Bürger: die 48er.


Das Gespräch moderierten Gunter Hofmann und Jörg Lau Leser-Kommentare (1) »